Was zum Leben dazu gehört

Es ist soweit. Seit zwei Tagen isst und trinkt er nicht mehr, schläft nur noch. Schnell wird klar, es geht zu Ende. Vielleicht noch ein paar Stunden, Tage, vielleicht eine Woche.

Verwandte, Freunde, Nachbarn kommen an sein Bett. Die Frauen stehen da und sprechen mit ihm. Die Männer verstummen. Es haut sie aus der Bahn. Ich stehe daneben, reiche Taschentücher und Wassergläser und höre zu. Freue mich über all die Geschichten, die sie erzählen. Aus Jugendtagen, von unbeschwerten Wochenenden am See, vom Kartenspielen letzte Woche, vom gemeinsamen Fußballgucken. Je dünner und schmaler er im Bett wird, desto bunter und reicher wird der Geschichtenschatz, den wir im Raum sammeln.

In der dritten Nacht schläft er ein, fliegt davon, wie seine Frau sagt. Um 2.30 Uhr, schreibt der Arzt am nächsten Morgen in den Totenschein. Bis zu 36 Stunden darf ein Verstorbener noch zu Hause bleiben – wir nutzen diese Zeit fast ganz aus. Es sind uralte Rituale, es ist eine Arbeit, die zutiefst mit dem menschlichen Leben und der Achtung davor verbunden ist, das spüre ich in diesen intensiven Stunden, in denen wir ihn verabschieden, waschen und umbetten.

Was ein Geschenk, einen solchen Prozess so nah begleiten zu dürfen. Ich bin unendlich dankbar und berührt. Und gleichzeitig erschrocken, was für ein Tabuthema Tod und Sterben sind. Kaum jemand stirbt im häuslichen Bereich – und wenn, dann greift ein professionalisiertes System, auf das man sich verlassen kann. Bestattungsunternehmen regeln alles, von der Abholung der Verstorbenen bis zur Dankeskarte nach der Beisetzung. Sie nehmen es denen ab, die in ihrer Trauer auf einmal ganz auf sich geworfen sind. Das ist für viele sicherlich ein Geschenk – gerade angesichts des Bürokratiejungles, der sich auftut, sobald jemand die Augen zu macht. Aber es nimmt auch ein Stück des Trauerprozesses weg.

Eine Geburt dauert häufig Stunden; die Zeit danach wird häufig als besonders wichtig für die Bindung beschrieben. Am Ende des Lebens geht es häufig ganz schnell – die Zeit, sich von jemandem in Gänze zu verabschieden (also nicht nur vorm verschlossenen Sarg in der Leichenhalle), gibt es oft nicht. Ich bin beschenkt worden von seiner Frau, die den Mut hatte, es anders zu machen, egal, was die Leute sagen. Ich durfte begleiten, Rahmen schaffen und halten. Und dafür bin ich dankbar.

Foto: Jon Tyson on Unsplash

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