Was zum Leben dazu gehört

von Simone Müller

Was zum Leben dazu gehört

von Simone Müller

Es ist soweit. Seit zwei Tagen isst und trinkt er nicht mehr, schläft nur noch. Schnell wird klar, es geht zu Ende. Viel­leicht noch ein paar Stun­den, Tage, viel­leicht eine Woche.

Ver­wand­te, Freun­de, Nach­barn kom­men an sein Bett. Die Frau­en ste­hen da und spre­chen mit ihm. Die Män­ner ver­stum­men. Es haut sie aus der Bahn. Ich ste­he dane­ben, rei­che Taschen­tü­cher und Was­ser­glä­ser und höre zu. Freue mich über all die Geschich­ten, die sie erzäh­len. Aus Jugend­ta­gen, von unbe­schwer­ten Wochen­en­den am See, vom Kar­ten­spie­len letz­te Woche, vom gemein­sa­men Fuß­ball­gu­cken. Je dün­ner und schma­ler er im Bett wird, des­to bun­ter und rei­cher wird der Geschich­ten­schatz, den wir im Raum sam­meln.

In der drit­ten Nacht schläft er ein, fliegt davon, wie sei­ne Frau sagt. Um 2.30 Uhr, schreibt der Arzt am nächs­ten Mor­gen in den Toten­schein. Bis zu 36 Stun­den darf ein Ver­stor­be­ner noch zu Hau­se blei­ben – wir nut­zen die­se Zeit fast ganz aus. Es sind uralte Ritua­le, es ist eine Arbeit, die zutiefst mit dem mensch­li­chen Leben und der Ach­tung davor ver­bun­den ist, das spü­re ich in die­sen inten­si­ven Stun­den, in denen wir ihn ver­ab­schie­den, waschen und umbet­ten.

Was ein Geschenk, einen sol­chen Pro­zess so nah beglei­ten zu dür­fen. Ich bin unend­lich dank­bar und berührt. Und gleich­zei­tig erschro­cken, was für ein Tabu­the­ma Tod und Ster­ben sind. Kaum jemand stirbt im häus­li­chen Bereich – und wenn, dann greift ein pro­fes­sio­na­li­sier­tes Sys­tem, auf das man sich ver­las­sen kann. Bestat­tungs­un­ter­neh­men regeln alles, von der Abho­lung der Ver­stor­be­nen bis zur Dan­kes­kar­te nach der Bei­set­zung. Sie neh­men es denen ab, die in ihrer Trau­er auf ein­mal ganz auf sich gewor­fen sind. Das ist für vie­le sicher­lich ein Geschenk – gera­de ange­sichts des Büro­kra­tie­jungles, der sich auf­tut, sobald jemand die Augen zu macht. Aber es nimmt auch ein Stück des Trau­er­pro­zes­ses weg.

Eine Geburt dau­ert häu­fig Stun­den; die Zeit danach wird häu­fig als beson­ders wich­tig für die Bin­dung beschrie­ben. Am Ende des Lebens geht es häu­fig ganz schnell – die Zeit, sich von jeman­dem in Gän­ze zu ver­ab­schie­den (also nicht nur vorm ver­schlos­se­nen Sarg in der Lei­chen­hal­le), gibt es oft nicht. Ich bin beschenkt wor­den von sei­ner Frau, die den Mut hat­te, es anders zu machen, egal, was die Leu­te sagen. Ich durf­te beglei­ten, Rah­men schaf­fen und hal­ten. Und dafür bin ich dank­bar.

Foto: Jon Tyson on Uns­plash