Es ist nicht egal.

Mein größtes Problem ist immer der Schlafmangel. Wenn ich weniger als sieben Stunde bekomme, funktioniere ich am nächsten Tag nicht richtig. Das ist schon zu Hause schwer genug, aber wenn ich im Sommer mit 60 Jugendlichen plus Leitungsteam zwei Wochen unterwegs bin, habe ich kaum eine Chance auf ausreichend Schlaf. An diesem Abend will ich eigentlich nur noch ins Bett. Der Tag war lang, morgen früh geht’s direkt weiter mit Frühstück, Einkaufsplanung und dem nächsten Ausflug.

Und dann schaue ich plötzlich in zwei verheulte Augen, die meinem Blick ausweichen. Sie ist unsicher, ob sie überhaupt näher kommen soll. Ob sie mir trauen kann. Ich habe keine Ahnung, worum es geht. Ein Freund ist bei ihr und redet ihr gut zu. „Mit Christian kannst du darüber reden, glaub’s mir“. Ich rätsele immer noch, was passiert sein könnte. Dass es nicht um eine Lappalie geht, sagen mir ihre Augen, die mich jetzt ab und an kurz fixieren, aber keinen Kontakt aufbauen wollen und wieder weg huschen. „Wollen wir uns dorthin setzen?“, schlage ich vor und zeige auf eine Sitzecke. Weit genug weg von den Wegen derer, die nur mal eben noch Zähne putzen wollen.

In den vergangenen Jahren habe ich viele solcher Gespräche geführt. Das gehört zu meinem Beruf als Seelsorger, und weil ich mit Jugendlichen arbeite geht es oft um ähnliche Themen: Liebeskummer, Krach mit den Eltern, die eigene Zukunft. Aber hier habe ich das Gefühl, dass nochmal etwas Besonderes dazukommt. Sie findet lange keine Worte, setzt immer wieder an, spricht sich irgendwann selber Mut zu: „Okay, also ich muss das jetzt einfach fragen. Ich meine, du hast schließlich die Bibel gelesen“. Ich sage ihr, dass ich in meinem Beruf eine Verschwiegenheitspflicht habe und – was immer sie mir sagt – ich nichts davon weitersagen darf, wenn sie es nicht will. Schließlich traut sie sich. „Ich bin…homosexuell“. Sie benutzt dieses Wort, kein anderes. Sie wartet und schaut mich ängstlich an. Ich weiß nicht mehr genau, was ich gesagt habe, aber offenbar entnimmt sie meinem fragenden Blick, dass ich durch diese Offenbarung allein noch nicht verstanden habe, wo das Problem liegt. Nun wird sie mutiger und erzählt. Von der Mutter, die das nicht wahrhaben will. Von der Tante, die sagt, dass sei gegen Gott und die Bibel. Und wie ihre Mutter dieses Thema nun abblockt und nicht mehr darüber spricht.

Sie erzählt mir das alles nicht, um es einfach nur loszuwerden – der Freund, der sie zu mir begleitet hat, weiß das alles längst. Sie will von mir, dem Theologen, wissen, ob die Tante und die Mutter Recht haben. Sie hat die Bibelverse im Ohr, die ihr woanders vorgehalten wurden. Sie will wissen, ob die stimmen. Ob es wirklich gegen Gott ist „so“ zu sein. Also gebe ich Auskunft über das, was ich darüber weiß und wovon ich zutiefst überzeugt bin. Dass diese Bibelverse etwas anderes meinen. Dass viel grundlegender in der Schrift der Glaube an die gute Schöpfung Gottes ist. Und dass Gott auch sie so geschaffen hat. Und dass Liebe immer von Gott kommt, weil Gott Liebe ist. Und ich kann sehen, wie etwas von ihr abfällt, wie sie ruhig wird, wie die Tränen trocknen, wie sie sich aufrichtet. Wir reden noch lange an diesem Abend. Mein Schlaf ist jetzt nicht mehr wichtig.

In den vergangenen Wochen habe ich oft an diesen Abend vor ein paar Jahren gedacht. Ich habe mich gefragt, was wäre, wenn sie sich in ein paar Jahren wieder meldet. Wenn sie vielleicht keinen Kontakt mehr zur Kirche hat, aber sich erinnert an die schöne Zeit, damals in den Ferien, und an unser Gespräch. Und wenn sie dann freudestrahlend erzählt, dass ihre Freundin und sie heiraten wollen und ob ich sie beide segnen würde. Wie könnte ich anders, als es zu tun? Wie kann ich den Menschen „sehr gut“ nennen, aber seine Liebesbeziehung nicht? Ich wüsste genau, was ich tun würde. Und ich will dafür keinen Applaus. Es ist nichts Heldenhaftes. Aber es sollte endlich selbstverständlich werden.

Es sind gar nicht so wenige, die meinen, das wäre doch egal. Als würde da noch irgendwer drauf warten, dass die alte Mutter Kirche jetzt auch noch ihren Segen gibt.
Es ist nicht egal.
Weil es kostbar ist, wenn zwei Menschen sich finden und ihr Leben miteinander teilen wollen. Weil Segen eine Kraft hat, der sie dabei stärken kann, das auch zu schaffen.
Es ist nicht egal.
Weil es immer noch so viele gibt, die verletzt sind. Nicht immer von der Kirche natürlich. Auch von ihren Eltern, Freunden, Kollegen. Die sich fragen, ob sie so sein dürfen. Ob sie so lieben dürfen.
Es ist nicht egal, was meine Kirche dazu sagt.
Weil es wichtig ist, dass sie die unterstützt, die Zweifel haben, dass Gott sie wunderbar und liebenswert geschaffen hat.
Es ist nicht egal.

Transparenzhinweis: Die Person, von der ich hier erzähle, hat diesen Text vor der Veröffentlichung gesehen und ihr Einverständnis dazu gegeben.

Foto: Rémi Walle/Unsplash

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