Sterne, Striche, Menschenkinder
Tief im Südwesten der Republik, kurz vor dem ersten Lockdown: Als ich mit Freiburger Freunden deren Verwandte nahe der Schweizer Grenze besuche, fällt unser Blick auf ein altes Buch, das als Deko in der Diele liegt. Als wir es öffnen, staunen wir nicht schlecht. In Schnörkelschrift und einem dieser endlosen barocken Titel ist da zu lesen, dass es sich um Lebensbeschreibungen von Heiligen und Heiliginnen handelt. Dass in der Kirche schon vor 300 Jahren gegendert wurde, überrascht selbst das buchbesitzende Ehepaar.
Mir kommt später dazu in den Sinn, dass es in manchen süddeutschen Regionen üblich war und teils noch ist, den Nachnamen einer Frau zu gendern: die Müllerin/der Müller, der Schmitz/die Schmitzin usw. In mehreren slawischen Sprachen ist das bis heute die (Sprach-)Regel.
Nichts Weibliches bzw. Individuelles außer der Anrede blieb dagegen auf dem Totenzettel für meine 1938 gestorbene Großmutter übrig: Frau Wilhelm Hoogen.
Ich frage mich: Wie viel (sprachliche) Unterscheidung braucht es, um diskriminierende Ungleichheit aufzudecken und Gleichbehandlung herzustellen? Und wann bedeutet Gleichheit Begegnung auf Augenhöhe, wann Uniformität?
In einem noch viel älteren Buch heißt es dazu Es spielt keine Rolle, ob ihr männlich oder weiblich seid. Denn durch eure Verbindung mit Christus seid ihr alle wie ein Mensch geworden. Das schreibt derselbe Christ Paulus, der anderswo den Frauen Kleidervorschriften macht Redeverbote erteilt. Ist es nicht utopisch zu fordern, dass alle gleich behandelt werden, weil alle Menschen sind und damit gleich? Wenn Gleichheit nur behauptet, aber nicht gelebt wird, kann das auch im Gegenteil enden, wie von George Orwell in seinem Roman Animal Farm beschrieben:
All animals are equal, but some are more equal than others.
Anderswo ringt Paulus mit dem Gemeindeleiter Petrus (erfolgreich) darum, dass nicht alle erst jüdisch werden müssen, um zur christlichen Gemeinde zu gehören. Was alle verbindet, die sich an Christus orientieren, beschreibt Paulus so:
Ihr habt nicht einen Geist empfangen, der euch versklavt.
Dann müsstet ihr doch wieder Angst haben.
Ihr habt vielmehr einen Geist empfangen, der euch zu Kindern Gottes macht.
Dass ich Mensch und Christ bin, hat also neben dem Entscheiden und Unterscheiden auch viel mit Freiheit zu tun. Einer Freiheit, die in Beziehung zu Gott (ent)steht.
Bliebe nur noch zu klären, was meine Freiheit mit der anderer zu tun hat. Und wes Geistes Kind ich bin. Und was das für mein Unterscheiden von Zeitgeistern heißt. So viel ist mir in der Dynamik von Sternchen, Strichen, Leerstellen und diversen anderen Unterscheidungsformen klar:
Gottes- und Menschenkind sein, Heiliger oder Heiligin werden heißt Gleichheit, Freiheit und Mitmenschlichkeit für alle fordern. Und vor allem leben.
Foto: Daniel Olah/Unsplash