Blühende Überlebenskünstler:innen

Die Woche in den Bergen hat mir gut getan. Endlich die ersehnte Auszeit – einfach mal raus. Raus aus dem Stress, der Arbeitsbelastung, den ungelösten Fragen, den Alltagskonflikten… Hinein in die Natur: Durchatmen – Aufatmen.

Beim Wandern in den Bergen sehe ich lauter Überlebenskünstler:innen. Pflanzen, die sich auf kargem Gestein behaupten. Sie blühen in Ritzen, zwischen lockerem Gestein, ja selbst auf hartem Felsen ohne erkennbares Erdreich und ohne Grund zum Wurzeln. Sie trotzen Wasser, Regen, Eis, Kälte, Steinschlag, Trockenheit… Selbst im unwegsamsten Gelände kann es passieren, dass einem solch kleine Überlebenskünstler:innen begegnen. Selbst da noch, wo wir keinerlei Leben mehr vermuten oder erwarten und unsere begrenzte, menschliche Vorstellungskraft einfach nicht ausreicht, um dort dem Leben noch ein Überleben zuzutrauen. Wie schaffen die Pflanzen das? Was ist ihre Überlebensstrategie? Kann ich von diesen blühenden Überlebenskünstler:innen lernen?

Zwei Aspekte scheinen beim Überleben besonders wichtig zu sein, die mir bei meiner Auszeit bewusst geworden sind: Widerstand und Anpassung. Zwei paradoxe Begriffe, die sich zunächst zu widersprechen scheinen. Bei den Pflanzen im Gebirge heißt das: Widerstand gegen die raue Umgebung, gegen die Aussichtslosigkeit, gegen das Wahrscheinliche, gegen das „Normale“ sowie Anpassung an herausfordernde Situationen, an extreme Wetterbedingungen, an die natürliche Umgebung… Die blühenden Pflanzen im Gebirge haben mir vor Augen geführt, dass das Überleben etwas mit Widerstand UND Anpassung zu tun hat. Nur mit dem Kopf durch die Wand, das funktioniert nicht gut, Anpassung bis zur Unkenntlichkeit, funktioniert ebenso wenig. Nicht Widerstand statt Anpassung, nicht Anpassung statt Widerstand, sondern Anpassung UND Widerstand.

Am nächsten Wochenende wird bei der Bundestagswahl über die politische Ausrichtung der zukünftigen Entscheidungsträger:innen in Deutschland entschieden. Auch hier scheinen mir die beiden Begriffe von Relevanz. Widerstand gegen eine Politik der Unmenschlichkeit, des Populismus, der Fremdenfeindlichkeit, der Ausbeutung und der Ungerechtigkeit, aber auch Anpassung an die Corona-Situation, die sich verschiebenden Altersstrukturen unserer Gesellschaft, die Fragen zu weltweiter Mobilität und Globalisierung, die Inklusion und den Umgang mit Geflüchteten, die Digitalisierung von Wirtschaft, die veränderte Arbeitswelt und die dramatische Klimasituation unserer Erde. Wo Themen zum Nachteil anderer Themen vernachlässigt oder vielleicht sogar einzelne Themen gegeneinander ausgespielt werden, da wird dauerhaft das friedliche Zusammenleben und Überleben unserer Gesellschaft gefährdet.

Widerstand und Anpassung – gelingt es beides miteinander zu verbinden, dann kann (Über-)Leben gelingen, selbst da, wo es uns Menschen aussichtslos scheint. Die farbenprächtigen Überlebenskünstler:innen in den Bergen leben uns diese Lebensstrategie vor und ihre Blüten sind eindrucksvolle Statements für das Leben. Wer schon einmal solch blühende Blumen im steinigen Hochgebirge gesehen hat, der bekommt eine Ahnung von der unbändigen Lebenskraft, die Gott in die Schöpfung hineingelegt hat. Vielleicht machen uns die Überlebenskünstler:innen aus den Bergen Mut, uns unseren Herausforderungen im Leben zu stellen – mit Widerstand UND Anpassung!

Gott,
mache uns zu blühenden Überlebenskünstler:innen!
Amen.

Foto: Melina Kiefer/Unsplash

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