Bebrüten

Endlich wieder ans Meer! Gerade in diesen Wochen, in denen es so aussah, als käme ich lange Zeit an keinen Sehnsuchtsort.

Also ins Auto gesetzt und zu zweit an die Küste gebraust. Gemächlich über die niederländische Autobahn, schließlich gilt hier jetzt überall Tempo 100. Das letzte vertraute Stück über die Landstraße: Hier kommen, wie immer, die ersten Möwen in Sicht, ruhig im Flug, silberweiß glänzend, die Schwingen gelassen vor dem blausonnigen Himmel ausgebreitet. Die Vorfreude steigt. Jetzt rechts abbiegen, ein kurzer Blick auf das seichte Gewässer neben der Straße. Die Sonne spiegelt sich darin, erste Vorboten des Meeresufers.

Holla. Was ist das?

Eine Lachmöwe. Frontal im Anflug mitten vor die Windschutzscheibe. Schwarzes Köpfchen, die Augen fest auf uns gerichtet, drohender Ruf aus dem weit geöffneten Schnabel. Erst im letzten Moment dreht sie ab und zieht übers Autodach. Meiner Mitfahrerin und mir bleibt vor Schreck fast das Herz stehen. Es bleibt nicht der einzige Vogel. Weitere attackieren unser Auto in gleicher Weise, Autofahrer vor und hinter uns haben den gleichen Hitchcock-Moment. Trauriger Anblick: Einige aus dem Schwarm liegen zerschellt und überfahren auf der Straße.

Es kann nur eine Erklärung geben: Durch die Reisebeschränkungen, die Corona weltweit auferlegt, ist diese Straße lange nicht befahren worden. Die Natur scheint eine Ruhe gefunden zu haben wie lange nicht mehr. Das seichte Gewässer neben der Straße gibt mir den Hinweis. Denn Lachmöwen heißen die Vögel ja nicht, weil sie so gern lachen. Sondern weil sie in Lachen, in flachen Gewässern, brüten. Angekommen, googele ich zur Sicherheit und werde beim Naturschutzbund fündig: „Zwischen April und Juli findet in großen Kolonien in der Nähe von Gewässern die Brut statt.“

Da haben sie sich eingerichtet, in Sicherheit gewähnt, ihren Nachwuchs bebrütet und dann kommen doch wir und stören. Mal eben die zwei Stunden zum Meer zu fahren ist nicht selbstverständlich, aber ein Luxus, den ich mir ab und zu gönne. Die Vögel mit den schwarzen Köpfen stellen mich in Frage.

Ich hab sie aufgestört. Das lässt sich nicht mehr ändern. Was kann ich hier und jetzt bewusst in Ruhe lassen?

Text: Angela Reinders


Foto: Douglas Bagg/Unsplash

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