Save our Souls

“Maike, ich würde dich gern auf einen jungen Nigerianer ansetzen.”

“Aber gern. Was macht er denn hier?”

“Er ist ein Flüchtling.”

Ich traf Amaru* das erste Mal am Ostermontag im Gottesdienst. Am Nachmittag saß er bei uns auf der Couch und erzählte in gebrochenem Englisch seine Geschichte. Dass sein Vater gelähmt und arbeitslos, seine Schwester spurlos verschwunden und seine Familie hungrig sei. Dass ihm sein Cousin den Flug nach Griechenland bezahlt habe. Dass die dortigen Behörden ihn aber nach Italien geschickt hätten, wo ihm von Landsmännern sein gesamtes Gepäck gestohlen wurde. Dass er dann in Deutschland eine längere Odyssee mit Stationen in München, Dortmund und Unna hinter sich gebracht hatte, bevor er schließlich einer Unterkunft in meiner Heimatstadt zugeteilt wurde. Dass diese Unterkunft ein Hotel sei, in dem er nicht kochen könne, weswegen er keine warmen Mahlzeiten hätte. Dass dort außer ihm nur Muslime seien, vor denen er offensichtlich Angst zu haben schien. Vor allem aber: Dass er hierbleiben und unsere Sprache lernen und arbeiten wolle.

Überfordert von so viel Leid, beschränken sich unsere guten Ratschläge auf die Auswahl eines passenden Mobilfunkvertrags, um kostengünstig mit seiner Familie zu telefonieren. Offenbar erfolgreich: Schon am nächsten Tag ruft Amaru mich und meine Schwester auf Handy an. Und am übernächsten. Und am überübernächsten. Schickt SMS, fragt, wann wir uns wiedersehen. Sagt, dass wir sein Leben hier gerettet haben. Dass er Gott für uns gedankt hat. Dass er unsere Eltern liebt.

Ich mache kurz den irren Versuch, mich in seine Situation hineinzuversetzen, aber ich weiß, dass ich das nicht kann. Wann immer ich bisher in diesem Leben im Ausland war, bin ich auf Menschen getroffen, die mich erwartet haben. Als ich zu Beginn meines Freiwilligendienstes in Chile landete, wurde ich mit Luftballons und Konfetti am Flughafen abgeholt, großartig bewirtet und bekam feierlich die Schlüssel meiner eigenen, vorgeheizten Wohnung überreicht. In Boston hatte ich das unverschämte Glück, in eine WG zu kommen, die mit mir nicht nur die Nächte durchdiskutierte, sondern mir auch sonst unconditional support dabei gab, mich in der neuen Welt zurechtzufinden. Gefühle von Fremdheit, Einsamkeit und Orientierungslosigkeit dauerten bei mir meistens nicht länger als ein paar Wochen an und gingen dann ziemlich schnell in die berühmte Honeymoon-Phase über.

Mir ist klar, dass das alles bei Amaru anders ist und dass wir in dieser Situation auf ihn wie Engel wirken müssen. Ich habe genügend interkulturelle Trainings mitgemacht, um zu wissen, dass sein Lobeslied auf unsere Familie vermutlich trotzdem nicht wortwörtlich zu verstehen ist. Und trotzdem fühle ich mich unangenehm unter Druck gesetzt. In den kommenden Tagen telefoniere ich mir die Finger wund, in der Hoffnung ein paar gute Tipps von Profis zu bekommen. Doch nirgendwo erreiche ich jemanden – Osterferien, erst ab Montag wieder jemand da. Also beschließe ich, mich Donnerstag noch einmal mit Amaru zu treffen, diesmal in der Stadt.

“Hi! Don’t you wanna come and see my room?” Breit grinsend, mit Achselshirt und Badelatschen steht Amaru am Hoteleingang. Ebenso breit grinsend erwidere ich: “No, the weather is so beautiful, let’s take a walk in the park” und schäme mich innerlich für meine Vorurteile. Nach ein bisschen Smalltalk erzählt er mir, was er Ostermontag verschwiegen hat: Dass er in seiner Gemeinde für schwul gehalten wird, weil er mit 33 noch nicht verheiratet ist und öfter mit einem schwulen Mann zusammen gesehen wurde. Dass er aber ganz gewiss nicht schwul sei, weil das Sünde ist und er für seinen Glauben leben wolle. Und dass er von mehreren Männern aus seinem Dorf nachts vergewaltigt worden ist. Spätestens in dem Augenblick, als er mir die Narben an seinen Fußgelenken zeigt, sitze ich nicht mehr auf der Bank neben ihm sondern blicke mit 5 Metern Distanz auf uns beide herab. Nicht nur mein Kopf, sondern auch mein Bauch sagen mir deutlich, dass das hier eine Nummer zu groß für mich ist. Und so beende ich nach einigen vermutlich eher unbeholfenen Versuchen ihn zu trösten das Gespräch ziemlich rasch und wimmele sein Betteln, mich nach Hause begleiten zu dürfen, ab.

Glücklicherweise erreiche ich zwei Tage später eine gute Bekannte, die früher selbst mit Flüchtlingen gearbeitet hat und kann sie um Rat fragen. Sie bietet an, Amaru in die entsprechenden Flüchtlingsnetzwerke in unserer Stadt zu integrieren und ihm ggf. einen geschulten Flüchtlingspaten zu vermitteln. Das scheint ganz gut zu klappen. Ich sage “scheint”, weil ich Amaru seither nicht mehr gesehen habe. Der dringenden Bitte eines Gemeindemitglieds, ihn darauf vorzubereiten, seine Geschichte dem Flüchtlingsbeauftragten unserer Stadt zu erzählen und ihn zu einer Psychotherapie zu überreden, bin ich nicht nachgekommen – nach reiflicher Überlegung und ausführlicher Beratung durch Flüchtlingsexperten. Ob ich gerade versuche, mich zu rechtfertigen? Ja. Weil ich noch immer nicht ganz mit mir selbst im Reinen bin, ihn einfach so weggeschoben zu haben – und gleichzeitig weiß, dass Trauma-Opfer mehr Hilfe benötigen, als ich sie geben kann.

Aus der Geschichte gelernt habe ich vor allem eines: Bei Flüchtlingen geht es um viel mehr als nur um ein paar Millionen EU-Fördermittel mehr und bessere Boote im Mittelmeer. So überlebenswichtig diese Boote sind – Flüchtlinge haben nicht nur einen Körper, sondern auch eine Seele.

Maike Sieben

*Name von der Redaktion geändert

Foto: prokop / photocase.de

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