Der Name der Rose. (2. Teil)

Herbst 2021:

Es hat begonnen zu regen. Wir stehen in einem Halbkreis im Kreuzgang an der Apsis des Hildesheimer Doms. Vor uns steht Frau Q, unsere Stadtführerin. Mit ihren feuerroten Haaren, kombiniert mit bemerkenswert modischer Kleidung, die einer ausgebildeten Tänzerin würdig ist, hat sie uns mit einem strahlenden Lächeln, direkt vor dem Domportal empfangen. „Lassen Sie uns vor der Führung zusammen beten oder singen.“ Und so stimmen wir unter dem Schutz unserer Masken und im notwendigen Mindestabstand ein:

Maria, breit den Mantel aus,
mach Schirm und Schild für uns daraus;
lass uns darunter sicher stehn,
bis alle Stürm vorübergehn.

„Sie kommen aus Aachen? Ach wie schön, dass passt ja gut! Denn wir in Hildesheim sind sehr mit ihrer Stadt verbunden. – In Aachen müssen Sie wissen, befinden sich die berühmtesten Stoffe Europas! Zum Beispiel das Kleid Mariens.  Um das Jahr 815 wurde ein Stück des Ärmels abgeschnitten und zu uns nach Hildesheim geschickt. Seither wird er hier verwahrt! Und es gibt noch eine andere Geschichte, die erzähle ich ihnen aber bei der Rose!“

Und dann stehen wir bei der 1000jährigen Rose, die an der Außenseite, der Dom-Apsis emporwächst. „Damals 815, soll Ludwig der Fromme als Sohn und Nachfolger Kaiser Karls des Großen zwischen den Blüten einer wilden Heckenrose eine kostbares Reliquiar vergessen haben, das er dort für eine Messe hatte aufhängen lassen. Als er zurückkehrte, um das Reliquiar wieder zu holen, ließ es sich nicht mehr vom Rosenstock entfernen. Ludwig  sah darin ein Zeichen und ließ zu Ehren der Mariens an Ort und Stelle eine Kapelle bauen, die sich zu dem entwickelte, was wir heute als den Hildesheimer Dom kennen. Diese Rose ist uns besonders wertvoll! Sie gibt uns Hoffnung, vor allem wenn es einmal schwierig wird!

Und das hat auch mit dem  zu tun, was kurz vor Ende des Zweiten Weltkrieges geschehen ist. Bei einem Bombenangriff im März 1945 verbrannte der Rosenstock fast völlig und lag unter den  Trümmern der Apsis begraben. Aber als die ersten Trümmer beseitigt worden waren, sprossen acht Wochen nach der völligen Zerstörung des Hildesheimer Doms  aus den verschütteten Wurzeln 25 neue Triebe!  Und heute umrankt diese Rose wieder den neu aufgebauten Dom – ein Wunder, wenn sie mich fragen!

In Hildesheim gibt es einen Satz der lautet: ‚So lange die Rose blüht, vergeht nimmer diese Stadt.‘ – schön oder?!  Im Inneren des Doms können Sie auch das Gefäß sehen, in dem das Stück des Marienkleides bis heute verwahrt wird.“

Zwei Tage später. Es regnet. Schon wieder. Ich sitze im ICE und blicke auf die an mir vorbeifliegenden Landschaften. Es war meine erste größere Dienstreise seit langem. Es tat gut, wieder Menschen analog zu treffen, wenn auch mit großen Sicherheitsmaßnahmen ,sich auszutauschen und miteinander Kaffee zu trinken. Und ich denke an Herrn M und Frau Q und ihre Begeisterung für ihre Geschichte(n). Beide waren so voller Motivation und Hoffnung. Etwas, das mir in den Zeiten der Pandemie manchmal fehlt.
Und ich nehme mir vor, nach meiner Rückkehr, bewusst den Ort in Aachen aufzusuchen, an dem ich jahrelang gedankenlos vorbeigegangen bin. Neben einer Seitenkapelle des Aachener Doms wächst ein Ableger der 1000jährigen Rose. „So lange die Rose blüht, vergeht nimmer diese Stadt.“

Schön, oder?!

Foto: Maria Orlova/Pexels

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