Der Name der Rose. (2. Teil)

von Jonas Zechner

Der Name der Rose. (2. Teil)

von Jonas Zechner

Herbst 2021:

Es hat begon­nen zu regen. Wir ste­hen in einem Halb­kreis im Kreuz­gang an der Apsis des Hil­des­hei­mer Doms. Vor uns steht Frau Q, unse­re Stadt­füh­re­rin. Mit ihren feu­er­ro­ten Haa­ren, kom­bi­niert mit bemer­kens­wert modi­scher Klei­dung, die einer aus­ge­bil­de­ten Tän­ze­rin wür­dig ist, hat sie uns mit einem strah­len­den Lächeln, direkt vor dem Dom­por­tal emp­fan­gen. „Las­sen Sie uns vor der Füh­rung zusam­men beten oder sin­gen.“ Und so stim­men wir unter dem Schutz unse­rer Mas­ken und im not­wen­di­gen Min­dest­ab­stand ein:

Maria, breit den Man­tel aus,
mach Schirm und Schild für uns dar­aus;
lass uns dar­un­ter sicher stehn,
bis alle Stürm vor­über­gehn.

„Sie kom­men aus Aachen? Ach wie schön, dass passt ja gut! Denn wir in Hil­des­heim sind sehr mit ihrer Stadt ver­bun­den. — In Aachen müs­sen Sie wis­sen, befin­den sich die berühm­tes­ten Stof­fe Euro­pas! Zum Bei­spiel das Kleid Mari­ens. Um das Jahr 815 wur­de ein Stück des Ärmels abge­schnit­ten und zu uns nach Hil­des­heim geschickt. Seit­her wird er hier ver­wahrt! Und es gibt noch eine ande­re Geschich­te, die erzäh­le ich ihnen aber bei der Rose!“

Und dann ste­hen wir bei der 1000jährigen Rose, die an der Außen­sei­te, der Dom-Apsis empor­wächst. „Damals 815, soll Lud­wig der From­me als Sohn und Nach­fol­ger Kai­ser Karls des Gro­ßen zwi­schen den Blü­ten einer wil­den Hecken­ro­se eine kost­ba­res Reli­qui­ar ver­ges­sen haben, das er dort für eine Mes­se hat­te auf­hän­gen las­sen. Als er zurück­kehr­te, um das Reli­qui­ar wie­der zu holen, ließ es sich nicht mehr vom Rosen­stock ent­fer­nen. Lud­wig sah dar­in ein Zei­chen und ließ zu Ehren der Mari­ens an Ort und Stel­le eine Kapel­le bau­en, die sich zu dem ent­wi­ckel­te, was wir heu­te als den Hil­des­hei­mer Dom ken­nen. Die­se Rose ist uns beson­ders wert­voll! Sie gibt uns Hoff­nung, vor allem wenn es ein­mal schwie­rig wird!

Und das hat auch mit dem zu tun, was kurz vor Ende des Zwei­ten Welt­krie­ges gesche­hen ist. Bei einem Bom­ben­an­griff im März 1945 ver­brann­te der Rosen­stock fast völ­lig und lag unter den Trüm­mern der Apsis begra­ben. Aber als die ers­ten Trüm­mer besei­tigt wor­den waren, spros­sen acht Wochen nach der völ­li­gen Zer­stö­rung des Hil­des­hei­mer Doms aus den ver­schüt­te­ten Wur­zeln 25 neue Trie­be! Und heu­te umrankt die­se Rose wie­der den neu auf­ge­bau­ten Dom – ein Wun­der, wenn sie mich fra­gen!

In Hil­des­heim gibt es einen Satz der lau­tet: ‚So lan­ge die Rose blüht, ver­geht nim­mer die­se Stadt.‘ — schön oder?! Im Inne­ren des Doms kön­nen Sie auch das Gefäß sehen, in dem das Stück des Mari­en­klei­des bis heu­te ver­wahrt wird.“

Zwei Tage spä­ter. Es reg­net. Schon wie­der. Ich sit­ze im ICE und bli­cke auf die an mir vor­bei­flie­gen­den Land­schaf­ten. Es war mei­ne ers­te grö­ße­re Dienst­rei­se seit lan­gem. Es tat gut, wie­der Men­schen ana­log zu tref­fen, wenn auch mit gro­ßen Sicher­heits­maß­nah­men ‚sich aus­zu­tau­schen und mit­ein­an­der Kaf­fee zu trin­ken. Und ich den­ke an Herrn M und Frau Q und ihre Begeis­te­rung für ihre Geschichte(n). Bei­de waren so vol­ler Moti­va­ti­on und Hoff­nung. Etwas, das mir in den Zei­ten der Pan­de­mie manch­mal fehlt.
Und ich neh­me mir vor, nach mei­ner Rück­kehr, bewusst den Ort in Aachen auf­zu­su­chen, an dem ich jah­re­lang gedan­ken­los vor­bei­ge­gan­gen bin. Neben einer Sei­ten­ka­pel­le des Aache­ner Doms wächst ein Able­ger der 1000jährigen Rose. „So lan­ge die Rose blüht, ver­geht nim­mer die­se Stadt.“

Schön, oder?!

Foto: Fran­co Gan­cis/Uns­plash