Am Ende eines Lebens

Donnerstagabend, 21.00 Uhr. Mit Laptop und Tee mache ich es mir auf der Couch gemütlich. Fünf Minuten später klingelt erwartungsgemäß mein Handy. „Hey, guten Abend – alles gut bei Dir?“ – ein paar Sätze gehen hin und her, was gerade so los ist bei uns, wir erzählen uns, wie fit oder müde wir gerade sind. „Okay, dann wie immer – ich hole Dich ab, wenn was kommt?“ Ja, so machen wir’s. „Auf eine ruhige Nacht, schlaf gut und bis spätestens morgen!“ Ich lege das Handy aus der Hand, überprüfe die Tasche, die fertig gepackt im Flur steht, lege noch eine Wasserflasche rein und nehme im Gegenzug den Piepser mit auf die Couch.

Um 21.30 Uhr schalte ich den schonmal ein – die Bereitschaft für die Notfallseelsorge beginnt eigentlich erst um 22.00 Uhr, aber mir hilft es, nicht erst um fünf vor „bereit“ zu sein. Ich sinke zurück auf die Couch, verbrenne mir die Zunge am Tee und versuche, nicht zu angespannt zu sein. Auch nach zwei Jahren, in denen ich schon einige Bereitschaften übernommen habe, ist das nicht immer leicht. Bei jedem Blaulicht, jeder Sirene, die draußen vorbeifährt, werde ich hellhörig, prüfe immer wieder Piepser und Handy. Nichts. Ich gehe ins Bett. Der Melder liegt auf dem Nachttisch, mein Schlaf ist unruhig, wie immer in diesen Nächten.

3.51 Uhr – es piept. Binnen zwei Sekunden bin ich senkrecht und bis der Anruf kommt, wohin wir fahren und um was es geht, habe ich schon die Kontaktlinsen drin, ein Kaugummi eingeworfen und bin startbereit. Wie verabredet sammle ich meine Kollegin ein. Wir fahren durch die dunkle Stadt in eine Wohngegend. Alles ist still. Als wir aussteigen, trifft zeitgleich der ärztliche Bereitschaftsdienst ein. Wir betreten gemeinsam die Wohnung. Ein älterer Mann mit einer heiklen Vorerkrankungen ist plötzlich verstorben. Seine Frau bittet uns herein, sichtlich aufgelöst. Wir gehen mit ihr in die Küche, während der Arzt die nötigen Untersuchungen vornimmt. In der Küche erzählt sie, dass sie in der Nacht irgendwann unruhig geworden ist, als Ihr Mann nicht ins Bett kam. Sie wollte schauen, ob er auf der Couch eingeschlafen ist, wie so oft in letzter Zeit. Dort hat sie ihn gefunden. Den Notarzt gerufen, gedacht, sie begleite ihn nochmal ins Krankenhaus – das kennt sie schon. Doch es war nichts mehr zu machen. Sie erzählt von ihrem gemeinsamen Alltag, von Zubettgeh-Gewohnheiten und muss abwechselnd lächeln, weil sie so glücklich waren und weinen, wenn die traurige Erkenntnis sich Bahn schlägt.

Irgendwann bittet der Arzt sie zurück ins Wohnzimmer. Er konnte eine natürliche Todesursache feststellen – wir atmen auf; das erspart dem Verstorbenen und auch seiner Frau viel in diesem Moment. Wir sprechen noch kurz mit ihr, ob sie noch etwas braucht, ob sie jemanden anrufen will, wir warten sollen, bis Angehörige da sind. Oft ist das so, in vielen Einsätzen scheuen es Angehörige, alleine mit den Verstorbenen zu bleiben, selbst wenn eigentlich nichts dagegen spricht.

Doch in dieser Nacht ist es anders. Nein, sie brauche nichts mehr. Ihre Nachbarin wisse Bescheid. Sie will den frühen Morgen allein mit ihrem Mann verbringen, bevor sie alles in die Wege leitet. Sie will Abschied nehmen, für sich selbst die Schritte gehen, die jetzt dran sind. Ihn vielleicht nochmal ordentlich zudecken, die Hände streicheln, die Stirn küssen. Und irgendwann die Wohnzimmertür schließen und den Bestatter anrufen.

Zum Abschied umarmen wir sie und treten hinaus in den heraufziehenden Morgen. Ein paar Vögel sind wach geworden und krächzen. Die Stadt erwacht langsam und wir fädeln uns schweigend in den Verkehr ein.

„Kaffee?“ – Unbedingt.

Foto: KoolShooters/pexels.com

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