Neu gelernt (zu beten)

Ich weiß nicht, wie oft ich es schon gebetet habe. Aber ich vermute, dass mir das Vaterunser wohl in einer Zahl im fünfstelligen Bereich durch die Gedanken und über die Lippen gegangen ist.

Vor einer Woche in Israel durfte ich es allerdings noch einmal neu verstehen lernen. Denn eine arabische Christin erklärte mir, wie es zu seiner Entstehung in der Bibel kam.

Zwei Mal finden wir das Vaterunser in der Bibel, einmal in der Darstellung der Lebensgeschichte von Jesus bei Matthäus und einmal bei Lukas. Beide beginnen damit, dass die Jünger Jesu beten lernen wollen bzw. sollen. Bei Matthäus korrigiert Jesus sie und mahnt sie, wie sie auf keinen Fall beten sollen: „Wenn ihr betet, sollt ihr nicht plappern wie die Heiden, die meinen, sie werden nur erhört, wenn sie viele Worte machen.“ (Mt, 6,7) Bei Lukas fragen die Jünger Jesus direkt wie sie beten soll: „Herr, lehre uns beten, wie auch Johannes seine Jünger beten gelehrt hat!“ (Lk 11,1)

Aus beiden Anfangsszenen spricht Unsicherheit und Wissbegier. Die Jünger wollen beten lernen, weil einerseits die Jünger von Johannes auch beten dürfen. Andererseits scheinen Andersgläubige öffentlich und frei gebetet zu haben und Menschen jüdischen Glaubens waren verunsichert. Deswegen ermahnt sie Jesus, was falsches Beten ist.

Es ist das Bild von einer multireligiösen Gesellschaft in Jerusalem. Juden und Andersgläubige leben hier zusammen und teilen sich die Stadt. Natürlich merkt man, wie die jeweils Anderen ihren Glauben leben und eben auch beten. Aber selbst unter den Menschen jüdischen Glaubens ist das Beten nicht weit verbreitet. Denn Jerusalem lebt vom und für Tempel in seiner Mitte und dort betet nur die Gruppe der Priester und der Hohepriester. Das Gebet von anderen Juden ist in seinen Augen und in den Augen der Menschen vom Tempel nicht wichtig. Nach dem Motto: „Die sollen nur Geld für Opfer geben oder Opfertiere mitbringen. Den Rest erledigen wir.“ In den Augen der Tempelhierarchie ist das die exklusive Verbindung der Priester mit Gott. Der Rest des Volkes braucht diese Verbindung nicht – oder nur durch sie.

Eine Erfahrung aus ihrem Alltag verunsichert die Jünger Jesu und ihn auch selbst: Warum aber tun es die Andersgläubigen und warum auch die Jünger des Johannes und warum lehnt sich Johannes gegen die Priester am Tempel auf und bringt seinen Leuten das Beten bei? [By the way: Lukas erzählt, dass der Vater von Johannes selber einer von diesen Priestern am Tempel war (Lk 1,5-25). Das schreit nach einem Familienstreit! J]

Die Jünger von Jesus wollen und sollen es auch tun. Und so bringt er Ihnen das Gebet bei, was für ihn die wichtigsten Gedanken für die Beziehung mit Gott und den Menschen enthält:

  • Gott verwandelt diese Welt zu seinem Reich und wir dürfen uns daran erfreuen,
  • deswegen ist er großartig („heilig“),
  • er sorgt für uns jeden Tag und meint es gut mit uns und
  • er mutet uns Frieden und Versöhnung zu, damit alle (Gott und die Menschen) miteinander gut leben können.

Für Jesus geht das aber nur, wenn alle Menschen erkennen, dass sie eine ganz persönliche und wertvolle Beziehung mit Gott leben und dass kein Priester das für Sie übernehmen bzw. ihnen wegnehmen kann.

Es hilft also auch den Blick mal auf die Fremden und die Umgebung der biblischen Geschichten zu werfen. Es geht dabei nicht nur um das heilige Volk. Wir lernen uns selber vielleicht noch besser kennen, wenn wir schauen, wie wir Fremde erleben und mit ihnen umgehen.

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