Monster des Alltags

Unterricht in meiner 12. Klasse. Tatsächlich gar nicht mal so selten ein Ort, der mich herausfordert wie bereichert und voll von überraschenden und nachdenklich machenden Momenten ist. Doch an diesem Tag ganz besonders. Thema der letzten Wochen war die christliche Eschatologie: Befremdlich wirkende mittelalterliche Bilder wichen schnell personalen Vorstellungen von einem Fegefeuer als Moment der absoluten Selbsterkenntnis im Angesicht Jesu und des selbstbestimmten „Selbstgerichtes“ – Ideen, die die SchülerInnen bewundernswert frisch, offen und kritisch reflektierten.

An diesem Tag galt es, dem Begriff der Sünde näherzukommen – für mich persönlich schon seit meiner Ersten Staatsexamensarbeit ein spannender wie schwieriger Begriff. Ich konfrontiere die SchülerInnen mit einem für sie – und vielleicht für viele – neuem Bild dieses sperrig gewordenen Begriffs. Wir tasten an: Was kann Sünde bedeuten, wenn Sie keine Übertretung eines göttlichen Gebotes, keine banale  Diätsünde, sondern – personal verstanden – Selbstentfremdung von uns selbst, von unseren Mitmenschen und letztlich auch von Gott ist? Ausgehend von Christian Mosers Postkartenset der „Monster des Alltags“ erhalten die SchülerInnen die Hausaufgabe, ihre „kleinen Monster“ zu zeichnen, also Haltungen oder Verhaltensweisen, die sie von sich selbst und anderen entfremden; eine Aufgabenstellung, die immer auch ein Wagnis ist, die nur funktioniert, wenn ein echtes Einlassen geschieht, wenn Offenheit und Vertrauen vorhanden ist.

Es folgt die nächste Stunde und ein Moment, der mich nachhaltig beeindruckt und bis heute beschäftigt. Nach einigen anderen Schülern zeigt eine Schülerin ihr gezeichnetes Bild: Ein kaum noch erkennbares Männchen ist zu erkennen. Der ganze Oberkörper ist überdeckt von einem riesigen Oktopus, nur die kleinen Beine und herunterhängende Arme sind noch erkennbar. Die langen Arme des Ungeheuers verhindern das Heben der Arme, deren Hände kaum erkennbar einen Malpinsel und ein kleines Herz halten. In den Fangarmen hält der Oktopus verschiedene Dinge: Ein Schild, auf dem „Abitur“ steht, Ballettschuhe, ein Ohr und vieles mehr. Ihr Monster, ihre Selbstentfremdung, ihre „Sünde“ nennt sie… „Erwartungen“.

Ich muss schlucken. Selten habe ich einen solchen Arbeitsauftrag so überzeugend, persönlich und dazu noch künstlerisch stark umgesetzt gesehen. Was mich daran so bewegt, ist nicht nur das Gefühl, hier Schüler echt erreicht zu haben (Und nein, so gerne wir Lehrer das hätten, so häufig schaffen wir dies leider nicht), sondern vor allem, dass die Schülerin darin so viel darstellt, dass auch ich kenne: In diesen Erwartungen, die die Schülerin wie ein riesiges Ungeheuer in ihrem Griff haben, steckt so viel, das ich selbst kenne: Erwartungen vom Job, immer ein „offenes Ohr“ für Freunde haben, selbst gesteckten Zielen nachkommen, Sport treiben… Immer wieder ertappe ich mich doch selbst dabei, niemanden zu kurz kommen lassen zu wollen, es allen recht machen zu wollen, nicht Nein sagen zu können. Wenn ich ehrlich bin, könnte ich die vielen Tentakel des Oktopusses beliebig mit eigenen kleinen Symbolen und Schildern füllen.

Und bei all diesen schönen und oft erstrebenswerten Dingen, die da in den Tentakeln stecken, bleibt doch die Frage, wo dabei das kleine Männchen bleibt; hier so liebevoll gezeichnet mit einem Pinsel und einem kleinen Herz in den herunterhängenden Armen. Und das ist hier nicht nur egoistisch gedacht, sondern auch im Sinne einer Entfremdung, eben nicht nur von sich selbst, sondern gerade auch von denen, die hier als Symbole vertreten sind: Von Freunden, Kollegen, Familie… von Gott? Echte Kommunikation, echte Nähe, echtes Sich-zeigen ist so ja gar nicht möglich, schließlich ist die Figur unter ihrem Monster ja kaum noch zu sehen…

Und so regt dieses Bild mich immer wieder an, mich selbst zu fragen: Wo sind meine „kleinen Monster“ im Leben? Wo bin ich aus Gewohnheit, aus Anpassung, aus Angst nicht ich selbst, wo kann ich mich nicht für andere öffnen, ihnen gar kein echtes offenes Ohr schenken? Wo lasse ich auch Gott nicht in mein Leben vor lauter Druck, Erwartungen, Geschäftigkeit? Und ist er – neben echten Erfahrungen von Freundschaft, Zuneigung, Liebe – nicht der eigentliche Schlüssel, um mich von diesen „Sünden“ zu befreien, um mir zu sagen: Ich sehe dich! Du bist genauso richtig wie du bist!

Foto: Jeahn Laffitte/Unsplash

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