Mittendrin statt nur dabei

Völlig kaputt und müde stehe ich am Bahnsteig des Würzburger Hauptbahnhofes. Der Zug ist pünktlich. Der ICE von Wien nach Hamburg soll mich zumindest bis Frankfurt bringen.

Wütend steige ich in den erstbesten Waggon ein, da alle Anzeigen außen am Zug ausgefallen sind und mein erster Blick in den Zug verrät mir, dass auch die Anzeigen für die Platzreservierungen nicht funktionieren. Vor meinem inneren Auge geht der Film los: Auseinandersetzung mit einer fremden Person auf meinem Platz; ein Schaffner muss vermitteln; Aufregung, die ich nach drei Tagen Konferenz nicht gebrauchen kann.

Im zweiten Waggon, den ich durchquere, resigniere ich und setze mich in einen freien Zweier. Ein kurzer Blick in den Zweier hinter mit lässt mich wundern. Warum liegt da ein Junge unter einer Fleecedecke? Aber ich setze mich einfach hin.

Nach einiger Zeit bemerke ich einen Unterschied. Es ist ziemlich leise in diesem Zug. Keine Handys klingeln, keine Notebook-Tastaturen werden wie wild gehämmert, ich höre keine Verhandlungen über sechsstellige Geldsummen von Bankern auf dem Weg nach Frankfurt. Es wird lediglich Arabisch gesprochen. Und ich rieche es: Schweiß, Dreck – die Luft steht im Zug.

Ganz langsam beginnt mein müdes Gehirn zu arbeiten. Du bist hier allein – mitten unter Flüchtlingen. Beim Aufstehen schaue ich mich links und rechts im Zug um. Hier sitzen nur arabisch aussehende Männer und Frauen. Der kleine Junge hinter mir ist mittlerweile aufgewacht. Er steht beim Zweiersitz einer Frau, die ein Bündel auf dem Arm hat. Auch sie unterhalten sich auf arabisch. Und dann wird er aktiv. Er schwingt sich zwischen den Sitzreihen den Waggon entlang. Flitzt hin und her und entdeckt die anderen Sitzreihen.

Der kleine Junge, vielleicht 8 oder 9 Jahre alt, hat große dunkle Augen. Die Füße stehen hinter aus den schwarzen Turnschuhen raus und sind mit Pflastern verklebt. Der blaue Pulli ist dreckig und das Haar zerwuselt.

Währenddessen rasen wir mit 220 km/h durch die Landschaft und wir legen eine Strecke in nur 70 Minuten zurück, die er und seine Mutter wohl in mehreren Tagen oder Wochen überwinden mussten. Wir durchfliegen eine Landschaft, die überhaupt keine Ähnlichkeit hat mit seiner Heimat. Was er wohl denkt? Was seine Mutter wohl durch den Kopf geht? Ich traue mich nicht zu fragen.

Aber ein Gefühl macht sich in mir breit: Hier bin ich allein und auch ein Fremder! Hier bin ich in meinem „deutschen“ Zug allein unter diesen Flüchtlingen und ich weiß nicht, was es bedeutet zu fliehen. Ich wollte schon einmal vor Klausuren fliehen, für die ich nicht gelernt habe und auch vor Gesprächen, in denen mir mit Recht der Kopf zurecht gerückt werden sollte. Aber ich musste noch nie fliehen, weil mir meine Heimat genommen wurde und mein Leben bedroht worden ist.

In diesem Moment erfüllt mich einfach nur Trauer, weil ich keine Verbindung zu der Situation der Menschen um mich herum in diesem Waggon aufbauen kann. Ich kann ihnen nur ihre Kraftlosigkeit ansehen und daneben das Spiel des Jungen, der äußerlich so kaputt aussieht. Und ich bin mittendrin. Mittendrin in dem, was ich bisher nur im Fernsehen und in Mediatheken gesehen und in Zeitungen gelesen habe. Mittendrin und nicht mehr nur dabei. Ich bin kein Zuschauer mehr, denn hier sitze ich mittendrin im Flüchtlingszug von Wien nach Hamburg.

Foto: Andreas Levers: Transit (CC BY-NC 2.0)

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