Mit aller Wucht

Für diejenigen, die das Buch „Hilfe, die Herdmanns kommen“ kennen: Brigitte O. wäre die Idealbesetzung für die Hermine gewesen.

Für alle anderen: Auf Brigitte O. mit ihrem Pottschnitt und ihrer Art, die genauso raubeinig war wie ihre Stimme, hätte ich mich jederzeit blind verlassen können, das weiß ich. Gleichzeitig musste man manchmal schauen, dass man nicht in ihre Nähe kam, wenn sie sich jeder menschlichen und schulischen Herausforderung, die sich ihr in den Weg stellte, mit aller Wucht entgegenwarf.

Unsere Grundschullehrerin war hellauf begeistert davon, dass Brigitte O. ein Lied konnte, das ihr gänzlich unbekannt war. So lud sie sie mindestens einmal im Monat zum Morgengebet nach vorne, neben das Lehrerpult, vor die Klasse ein, damit wir es gemeinsam singen konnten. Das stellte sich wie folgt dar. Brigitte O. brüllte: „Du, Herr, gabst uns dein festes Wort!“, und ein Haufen Siebenjähriger piepste verschreckt zurück: „Gib uns allen deinen Geist …?“, was mehr wie eine Frage denn eine Bitte klang. „Du gehst nicht wieder von uns fort!“

Wenn in diesen Tagen weniger gesungen wird, dann fallen mir all die Lieder ein, die ich jetzt singen würde. Vor Pfingsten: genau dies.

Da sitze ich, im Herzen siebenjährig. Um mich herum so viele, die verschreckt sind, ängstlich, mit dem Kontrollverlust angesichts der Pandemie leben müssen und beten würden, wenn sie denn wüssten, wie und was. Was wäre das eine gute Idee, ihnen ein Angebot zu machen. Ich würde Brigitte O. auf die Dächer unserer Kirchen stellen, reihum, und in den Abendhimmel brüllen lassen: „Du, Herr, gabst uns dein festes Wort!“, und dann wäre aber auch so was von klar, dass er uns als nächstes seinen Geist gibt. Mit aller Wucht.

Text: Angela Reinders
Foto: Jason RosewellUnsplash

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