Mein Gott, mein Gott

Jeden Montag trifft sich eine Gruppe von Frauen unterschiedlichen Alters in unserem Jugendzentrum zum Häkeln. Die Handarbeit ist für sie Kreativität, Kultur, bescheidene Einkommensquelle und Gemeinschaft. Beim Häkeln erholen sie sich und spinnen miteinander Fäden der Solidarität und des Vertrauens. Manchmal sitzen sie schweigsam im Kreis und teilen doch unausgesprochen so viele Sorgen, Verletzungen und Hoffnungen. Normalerweise werden die flinken Bewegungen ihrer geübten Hände jedoch begleitet von den unterschiedlichsten Gesprächen aus ihrem Alltag.

Kürzlich haben wir gemeinsam ein paar Psalmenworte gelesen. Jede durfte einen Vers auswählen, der sie besonders berührte. Von Lobpreisung und Danksagungen bis hin zu Wehklagen und verzweifelten Schreien war alles dabei. Die Nöte und Freuden der Menschen sahen vor mehr als 2000 Jahren also gar nicht so anders aus als heute. Die Frauen konnten sich problemlos mit den Gefühlen der PsalmistInnen identifizieren: Staunen und Dankbarkeit, Verlassenheit und Verzweiflung.

Auch Doña A. musste nicht lange überlegen. „Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen?“ (Ps 22, 2) Ihr siebzehnjähriger Sohn ist vor einem Jahr auf dem Heimweg von der Schule vor den Augen seiner MitschülerInnen erschossen worden. Am helligten Tag, in seiner Schuluniform. Wir alle kannten ihn als aufgeschlossenen Jugendlichen und leidenschaftlichen Fußballer. „Warum hast Du mich verlassen?“ Doña A. brauchte nichts zu erklären, die anderen Frauen verstanden. Auch sie haben fast alle eine/n Angehörige/n oder FreundIn an den bewaffneten Konflikt verloren, und dennoch besteht für sie kein Zweifel – weder an der Existenz noch an der Güte Gottes. „Unsere Eltern hofften auf dich, und da sie hofften, halfst du ihnen heraus“, heißt es später in demselben Psalm. Ich staune über den tiefen Glauben der Frauen.

Am Ende formulierte jede ihren eigenen Psalm – ein befreiender Moment für diese Frauen, die dazu erzogen wurden zu gehorchen, auch Gott. Doch hier ging es nicht um Ja und Amen. Hier durften sie Gott einmal richtig in die Mangel nehmen. „Warum hast du mich verlassen?“ Wie konntest du das zulassen? Woher soll ich immer wieder neue Kraft nehmen? Am Ende blieb dennoch bei allen die tiefe Gewissheit, dass wir nicht nur auf Gott vertrauen, sondern auch mit ihm hadern dürfen. Mein Gott, mein Gott.

Foto: Imani

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