Martinszug und echte Martinsbirnen

Wie viele Menschen braucht es für einen Martinszug? Seit gestern lautet meine persönliche Antwort: Zwei!

Er kommt mir entgegen, dieser Martinszug. Ohne Martinsmann, ohne Pferd, ohne Bettler, ohne Blaskapelle, ohne leuchtende Laternen, ohne Menschenmassen. Mitten am Tag, nach einem langen Spaziergang in der Natur, zwischen Obstwiesen und Ackerflächen, bei strahlendem Sonnenschein und 15°Grad – eine Mutter mit ihrem kleinen Kind, Hand in Hand. Ich sehe sie schon von weitem, wie sie langsam auf mich zukommen. Ich aber habe es eilig, denn die spontane Auszeit war ohnehin schon länger geworden als von mir geplant; ich musste dringend zurück an den Schreibtisch. Während wir uns aufeinander zubewegen, kann ich einzelne Worte hören: „St. Martin…ritt…Schnee und Wind…fort geschwind.“ Und ich kann nicht anders, als innerlich in das alte Martinslied einzustimmen und es vor mich hinzusummen. Schöne Erinnerungen an meine eigene Kindheit werden wach.

Ich stoppe kurz ab, um die beiden vorbeizulassen, grüße sie kurz und biege dann zügig in den nächsten Weg ein. Gedanklich bleibe ich aber weiterhin bei diesem Martinszug. Ich frage mich, wie lange wohl noch Menschen dieses Lied kennen und singen werden? Ob aktuell wegen Corona überhaupt irgendwo Martinszüge stattfinden? Und was so ein Heiliger wie Martin in der heutigen Zeit eigentlich noch für eine Bedeutung für Menschen hat? Würde ich so handeln …

Während ich so in Gedanken bin, sehe ich auf einmal, wie auf der angrenzenden Obstwiese ein älterer Mann versucht eine große Leiter an einen hohen Birnenbaum zu lehnen. Er stemmt sie mit aller Kraft hoch, kann sie aber nicht halten, so dass sie krachend zurück auf die Erde fällt. In meinem Kopf sehe ich schon, wie der Mann beim nächsten Versuch entweder von der Leiter erschlagen wird oder kurze Zeit später von der Leiter fällt und sich alle Knochen bricht. Ohne viel nachzudenken, biete ich ihm also meine Hilfe an. Er zögert, bezweifelt das ich es überhaupt über den Weidezaun schaffe und ist dann verblüfft, als ich doch neben ihm stehe. Gemeinsam heben wir die Leiter auf, wuchten sie an den Birnenbaum. Während er auf der Leiter stehend die Birnen pflückt, halte ich die Leiter fest, damit er nicht das Gleichgewicht verliert und sich womöglich das Genick bricht. Schnell sind die beiden Eimer mit den gepflückten Birnen gefüllt. Sein überschwänglicher Dank ist mir unangenehm, ebenso wie die geschenkten Birnen. Ich kann sie aber schlecht ablehnen, obwohl sie nicht alle in meine Jackentasche passen. „Nehmen Sie die bitte mit! Alleine hätte ich das wohl nicht geschafft. Danke!“, sagt er mir zum Abschied.

Während ich also mit den Birnen in den Händen versuche über den Zaun zu klettern, kommt zur gleichen Zeit mein Martinszug wieder um die Ecke. Mutter und Kind sind anscheinend umgekehrt und ebenfalls auf dem Rückweg. Sie singen noch immer das Martinslied: „…der Bettler rasch ihm danken will. Sankt Martin aber ritt in Eil hinweg mit seinem Mantelteil.“ Besser hätte das auch Hollywood wohl nicht inszenieren können – aber es war live!

Da ich finde, dass so viel Ausdauer beim Singen bei einem Martinszug belohnt werden sollte, schenke ich den beiden zwei Birnen. „Das sind echte Martinsbirnen“, sagt die Mutter zu ihrem Kind, das mich mit großen, leuchtenden Augen ansieht. „Wir haben gesehen, wie sie dem Mann geholfen haben. Gut, dass es hilfsbereite Menschen wie sie gibt.“

Es ist klar: Weder war der ältere Mann ein Bettler, noch ich der Heilige Martin. Und doch wirkte das Ganze wie ein merkwürdiges Martinsspiel, in das ich ungeplant hineinstolperte. Noch immer stelle ich mir die Frage, ob ich die Situation auf der Obstwiese überhaupt wahrgenommen hätte, wenn ich nicht vorher meinem Martinszug begegnet wäre.

Wie viele Menschen braucht es für einen Martinszug? Zwei! – wenn sie die Erinnerung an die Hilfsbereitschaft des Heiligen Martin wach halten und damit andere Menschen zum Wahrnehmen von Hilfe-Bedürftigen sensibilisieren und zum Handeln motivieren.

Foto: Mekht/Unsplash

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