Lieber G.
von Lucia Traut
Lieber G.
von Lucia Traut
Lieber G.,
8 Jahre ist es her, dass wir von deiner Frau den Anruf bekamen: Der Krebs gewinnt, es bleiben nur noch wenige Tage. Das war kurz nach Weihnachten, in dieser merkwürdigen zeitlosen Zeit, die man “zwischen den Jahren” nennt. Für mich wurden diese Tage durch den Anruf zu einer Zeit “zwischen den Leben”. Zwischen dem Leben mit dir, unserem jahrelangen Freund und Weggefährten, und dem Leben ohne dich, das nun unweigerlich kommen würde.
Auf einmal war viel zu wenig Zeit da. Nichts von dem, worauf wir uns gefreut hatten, würden wir noch zusammen erleben können. Und gleichzeitig war auf einmal ganz viel Zeit da. Zeit für dich und deine letzten Wünsche. Denn du hattest jetzt Priorität.
Einer deiner Wünsche war, dass du noch das Ende der Geschichte erfahren wolltest, an der wir in unserer Pen&Paper-Rollenspiel-Gruppe zusammen spielten.1 In unserer Geschichte “Die 7 Gezeichneten” hatten unsere Helden-Alter Egos schon viele Abenteuer miteinander erlebt und überlebt, im Kampf gegen eine im Aufstieg begriffene mythische böse Macht. In ein paar Monaten würden wir das große epische Finale spielen und unsere Helden würden ihre Bestimmung finden. Seit 7 Jahren fieberten wir darauf hin, hatten Tage und Nächte in dieser Geschichte verbracht, miteinander gelacht und geweint und viel erlebt. Aber schon bei den letzten Spielsitzungen warst du nur noch hörend per Zoom zugeschaltet, zu mehr reichte deine Kraft nicht mehr. Und nun würde auch die Zeit nicht mehr reichen.
Mein Mann, der als Spielleiter den weiteren Verlauf und das Ende der Geschichte kannte, verbrachte einen ganzen Tag damit, sich durch die verbleibenden hundert Seiten der Abenteuerbeschreibung zu lesen und dann fuhren wir zu dir und mein Mann setzte sich mehrere Stunden an dein Sterbebett und erzählte dir, wie das Abenteuer weiter- und zuende gehen würde. Wie Hartmann von Falkenstein (so der Name deines Helden) und seine Gefährten schlussendlich alles für eine epische Endschlacht gegen die finsteren Horden aufbieten würden, in der die Guten zwar den Sieg davon tragen, unsere Helden, die 7 Gezeichneten, aber einen Heldentod sterben würden. Er erzählte stundenlang, damit wenigstens diese Phantasie-Geschichte für dich ihr vorgesehenes Ziel finden würde. Und ein bisschen erzählte er auch gegen den Tod an, der deine wirkliche Lebensgeschichte einfach vor der Zeit beenden würde. Es fühlte sich an, als würdet ihr beide dem Tod noch einen letzten Kampf liefern um diese eine Geschichte, die es noch zu erleben galt. Und es gelang: Erzählend habt ihr dem Tod noch ein Schnippchen geschlagen, das Ende dieser Geschichte konntest du noch erleben.
Als wir ein Dreiviertel Jahr nach deinem Tod dann das Abenteuerfinale als Gruppe zusammen spielten, warst du da. Dein Foto und deine Worte, die unser Spielleiter für genau diesen Augenblick in deinem Auftrag durch die Zeit getragen hatte. Wir weinten, wir lachten, und wir schlugen dem Tod noch einmal ein Schnippchen. Diese Geschichte hatte er nicht bekommen. Diese Geschichte gehörte uns allen für immer.
- Für alle, die davon noch nie gehört haben: Pen&Paper Rollenspiel ist eine Art Improtheater, bei der die Spieler in die Rollen von Fantasy Helden schlüpfen, und durch kollaboratives Erzählen in der geteilten Phantasie miteinander Abenteuer erleben. ↩︎
Foto: Nika Benedictova/pexels