Kraftort

Dieses 2020 ist ganz schön verrückt. Aber wem sag ich das. Drei Monate scheinbar schierer Wahnsinn – im privaten wie im gesellschaftlichen Bereich. Schreckensnachrichten, nie zuvor gekannte Situationen, sich überschlagende Ereignisse, Horrorszenen an den europäischen Außengrenzen. Und in all dem geht irgendwie das Leben weiter.

Das fühlt sich reichlich komisch an und ich merke, wie ich immer wieder tief Luft holen muss.

Dabei geht meine Erinnerung zurück an den Beginn dieses Jahres oder vielmehr das Ende des letzten Jahres. Eine Kuhweide an der Waldgrenze. Gegenüber eine Burg. Auf der Wiese nur ein schwarzes Zelt. Mit einem Feuer in der Mitte, einigen Bänken drumherum, ein Teil meiner Liebsten darauf. Ein Ritual, das mich seit knapp zehn Jahren begleitet. Zelten ins neue Jahr hinein. Wenn ich abends in den zu kalten Schlafsack schlüpfe kommt immer mal wieder der Gedanke: „Warum tun wir uns das eigentlich immer noch jedes Jahr an?!“

Als Antwort kommt der Silvestertag: Im Tal unter uns Nebel, auf unserer Kuhweide Sonne. Wir nehmen die Schaffellmatten mit hinaus, legen uns auf die Bänke, Kaffee dazu, unbeschreiblich gut. Nach einer Stunde Sitzen und Schweigen tut mir der Hintern weh. Ich lege eine Matte ins Gras, ziehe die Socken aus und fließe durch ein paar Yogahaltungen: Berg. Baum. Held. Adler. Verbinde das Außen mit dem Innen, mich mit der Umgebung. Ich ernte belustigte Blicke von Wanderern, die an „unserer“ Wiese vorbeikommen, wir wechseln ein paar nette Worte. Langsam zieht der Nebel nach oben, die Sonne wird schwächer. Ein letztes Mal tief ein- und ausatmen. Als ich die Augen wieder aufmache, sitzen meine Besten immer noch auf der Bank, schauen ins Tal und halten sich in den Armen. Das alte Jahr geht, das neue kommt.

Diese Stunden sind mein Kraftort geworden für dieses Jahr. An die Erinnerung kann ich immer wieder andocken, dort aufladen, mich an die Ruhe erinnern, die Sonne, die Freundschaft, die Liebe. Und unendlich dankbar sein für dieses Geschenk, gerade in diesen völlig neuen Zeiten. Und wissen: Alles hat seine Zeit.

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