Im System Kirche

Es gibt Tage, die sind einfach unerträglich. Die sind furchtbar. Die halte ich nicht aus. Da will ich alles hinwerfen und einfach etwas anderes tun, jemand anderes sein. Am letzten Donnerstag war so ein Tag.

In München wurden von einer unabhängigen Anwaltskanzlei die Ergebnisse ihrer Nachforschungen zu Fällen von sexuellem Missbrauch innerhalb der katholischen Kirche im Erzbistum München und Freising veröffentlicht. Was sie vortrugen war nicht wirklich überraschend, aber deshalb nicht weniger erschütternd. Zahlreiche Bischöfe, bis hin zu einem emeritierten Papst, haben die Unwahrheit gesagt, mit absurden Relativierungen versucht ihr Handeln zu erklären und so das Leid von zahlreichen Opfern noch vergrößert. Die Reaktionen waren deutlich und ebenfalls erwartbar.

In meinen Twitterbubbles waren auch jenseits der üblichen Personen, die sich kritisch mit der Kirche auseinandersetzen, auch Stimmen zu hören, die bis ins Mark erschüttert waren; von Menschen, die der Kirche nahestehen. Und von Kolleginnen und Kollegen, die ihrem Frust Ausdruck verliehen, die spürbar mit sich und ihrer Kirche rangen. Ich kann es so gut nachvollziehen – aber ich kann die dauernde Erschütterung auch nicht ertragen, weil ich zunehmend merke: Diese Erschütterung ist die Erschütterung des eigenen Selbstbildes, aber sie hat nichts, aber auch gar nichts, mit dem wirklichen Leid der Opfer zu tun. Und dieses Leid ist weit schwerer, wenngleich ich das Verhalten der frustrierten Kolleg:innen gut verstehen kann.

Da gab es auf Twitter Sätze, die mir nachgegangen sind. Einige waren differenzierter, andere eher polemisch. Zwei Sätze sind mir besonders hängen geblieben:

„Von den guten Priestern, die früher für mich ein Grund waren, trotz allem in der Kirche zu bleiben, erwarte ich inzwischen, dass sie endlich selbst austreten.“ Und ich frage mich, ob dies nicht auch für Nichtpriester gilt.

Und: „Komisches Gefühl. Ich fühle mich unwohl dabei, als Bediensteter dieser Kirche ins Bett zu gehen und morgens als solcher aufzuwachen. #Kirche #Missbrauch #Machtmissbrauch“

Matthias Katsch, eine der führenden Stimmen der Menschen mit Missbrauchserfahrung, bedankt sich für diese Stimmen: „Danke für eure Solidarität heute.“ Und ein anderer User fragte einen Priester: „Was würde es für einen Unterschied machen, ob Sie austreten oder nicht?“ Diese Frage stelle ich mir auch. Macht das einen Unterschied, ob ich bleibe? Kann ich bleiben?

Ich bin in meinem Bistum für Glaubenskommunikation und Verkündigung, aber auch für alle Fragen rund um den Wiedereintritt zuständig. Wie kann ich Mitglied dieses Systems sein und hier diese Aufgabe erfüllen?

Ich bin durch meine Biografie in einer privilegierten Situation. Kirche war für mich fast immer ein Ort der Freiheit und des Vertrauens. Hier habe ich im Jugendverband – beim Pfadfinden – erlebt, wie Selbstwirksamkeit funktioniert. Hier habe ich mich zum ersten Mal verliebt, ich durfte ich Verantwortung tragen, hier wurde ich gesehen, konnte wachsen, mich entfalten. Ich durfte in meinem Theologiestudium lernen kritisch zu denken. Fast nie hatte ich das Gefühl, dass mir das kirchliche Korsett zu eng würde. Nie wurde mir irgendwie Leid angetan.

Das ist keine Selbstverständlichkeit. Dieses Privileg haben nicht alle. Ich hatte immer das Bedürfnis, das, was ich an Gnade, an Gutem empfangen habe, weiterzugeben. Ich habe sieben Jahre lang in der Jugendabteilung des Bistums gearbeitet und versucht, andere Kinder und Jugendliche teilhaben zu lassen an dem Geschmack der Freiheit und des Vertrauens. Und ich frage mich heute: Habe ich das System stabilisiert? Habe ich damit etwas bewahrt, was nicht zu bewahren ist? Und ich frage mich das in aller Nachdrücklichkeit und habe noch keine Antwort. Ein anderer Kollege sagte mir „Es ekelt mich im Moment, meine Arbeitsstätte zu betreten.“ Auch dieses Gefühl kenne ich.

Wie geht es jetzt weiter?

Zunächst bin ich sehr froh, dass im Bistum Aachen bereits 2020 den Weg der (externen) Aufarbeitung beschritten wurde!

Und ich bin dankbar für die eindeutige und klare Haltung die Bischof Dieser in diesen Tagen bezieht.

Und doch bin persönlich bin ich noch nicht fertig. Persönlich ringe ich, wie ich in dieser Kirche sein kann und will.

Mit meinem Dienst möchte ich weiter einen Unterschied machen – ich möchte die unterstützen, deren Stimmen viel zu häufig überhört wurden und werden.

Mutige Menschen, wie zum Beispiel die, die sich bei der Kampagne ‘ #OutInChurch” für eine Kirche ohne Angst’ starkmachen.

Ich glaube auch, dass dieser Blog ein Ort sein kann, dieser Vision zu folgen.

Wie das genau aussehen kann, weiß ich noch nicht genau.

Aber nur so kann ich zur Zeit weitergehen – im System Kirche.

Foto: Clint Adair/Unsplash

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