Ich habe mich für die Liebe entschieden
Ich kannte brennende Flaggen bisher nur aus den Nachrichten, doch dieses Mal liegt die Fahne mit den zwei Brandlöschern hinter der Tafel, in einem Klassenraum. Sie wurde von der Wand gerissen, dem Anschein nach mit einem Feuerzeug bearbeitet. Es ist meine Regenbogenfahne – ein Geschenk eines Freundes. Doch die Person, die diese Flagge attackiert hat, wird vermutlich nicht darüber nachgedacht haben, dass sie ein Privatbesitz ist, sondern sie als ein Symbol in einem öffentlichen Raum gedeutet und vor allem als Provokation empfunden haben. Als ich die Fahne vom Boden aufhebe, glaube ich auch nicht eine Sekunde, dass mir ein Sachschaden entstanden ist, der Schaden ist tiefgreifend immateriell. Mein Statement der Toleranz, Solidarität und die Friedens liegt geächtet und beschädigt am Boden. In dem Moment, indem ich das begreife, spüre ich, dass mich das Brandloch ganz persönlich trifft.
Während ich das Geschehen auf mich wirken lassen, füllt sich der Raum nach und nach mit Schüler*innen. Aber wie soll ich mich nun verhalten? Gefühle zeigen? Über der Situation stehen – obwohl ich mich doch in der Situation befinde? Auf keinen Fall werde ich von meinem Wunsch, in einer Gesellschaft zu leben, in der die mit der Fahne verbundenen Werte verwirklicht werden, ablassen. Ich möchte nicht müde werden, diese Fahne zu hissen. Ich lege sie auf das Pult, male mit einem schwarzen Filzstift Herzen um die Brandlöcher und hänge sie an die Wand. Danach schreibe ich die Worte Martin Luther Kings auf ein Blatt Papier, das ich neben der Fahne befestige: „Ich habe mich für die Liebe entschieden. Hass ist mir eine zu schwere Bürde.“
Ich habe dem nichts entgegenzusetzen als Liebe. Diese ist ein absoluter Wert, wie es auch die Würde des Menschen ist. Meine Liebe ist keine andere – keine bessere oder schlechtere – als die eines homosexuellen Menschen. Liebe hat unterschiedliche Ausdrucksformen und eine partnerschaftliche Liebe sehnt sich selbstverständlich auch nach Körperlichkeit, eben nach Ganzheitlichkeit. Unbestreitbar stören sich Personen, die gelebte Homosexualität ablehnen, an dieser körperlichen Dimension, die nicht zu ihrem Schema von Heterosexualität zu passen scheint. Um Sexualität moralisch beurteilen zu können, ist jedoch die Frage entscheidend, ob Sexualität eine Ausdrucksform liebender Zuneigung und personaler Begegnung ist oder ob diese instrumentalisiert bzw. ob der Mensch instrumentalisiert wird.
Ist in einer gelebten Sexualität, die vorwiegend auf Selbstbestätigung oder Fortpflanzung ausgerichtet ist, der Mensch noch Zweck an sich selbst? Wenn ich die Werte von Würde und Liebe ernstnehme und als absolute verstehe, dann kann ich eine Auffassung von Sexualität, die homosexuellen Menschen diese körperliche Dimension vorenthält und sich vorwiegend über die Möglichkeit der Reproduktion definiert, nicht gutheißen oder akzeptieren.
In dem Moment, in dem ich die Regenbogenflagge wieder an die Wand hänge, wird mir bewusst, dass nicht nur Menschen meine Solidarität brauchen, sondern dass ich sie ebenfalls brauche. Ich brauche die Menschen, die mit ihrem Leben beweisen, dass man Liebe nicht modifizieren kann, dass man Würde nicht modifizieren kann, dass man Gerechtigkeit nicht modifizieren kann. Ich hisse die Flagge – auch für den Menschen, der sie nicht ertragen konnte.
Foto: Tim Bieler/Unsplash