Ich habe mich für die Lie­be ent­schie­den

von Anja Biroth

Ich habe mich für die Lie­be ent­schie­den

von Anja Biroth

Ich kann­te bren­nen­de Flag­gen bis­her nur aus den Nach­rich­ten, doch die­ses Mal liegt die Fah­ne mit den zwei Brand­lö­schern hin­ter der Tafel, in einem Klas­sen­raum. Sie wur­de von der Wand geris­sen, dem Anschein nach mit einem Feu­er­zeug bear­bei­tet. Es ist mei­ne Regen­bo­gen­fah­ne – ein Geschenk eines Freun­des. Doch die Per­son, die die­se Flag­ge atta­ckiert hat, wird ver­mut­lich nicht dar­über nach­ge­dacht haben, dass sie ein Pri­vat­be­sitz ist, son­dern sie als ein Sym­bol in einem öffent­li­chen Raum gedeu­tet und vor allem als Pro­vo­ka­ti­on emp­fun­den haben. Als ich die Fah­ne vom Boden auf­he­be, glau­be ich auch nicht eine Sekun­de, dass mir ein Sach­scha­den ent­stan­den ist, der Scha­den ist tief­grei­fend imma­te­ri­ell. Mein State­ment der Tole­ranz, Soli­da­ri­tät und die Frie­dens liegt geäch­tet und beschä­digt am Boden. In dem Moment, indem ich das begrei­fe, spü­re ich, dass mich das Brand­loch ganz per­sön­lich trifft.

Wäh­rend ich das Gesche­hen auf mich wir­ken las­sen, füllt sich der Raum nach und nach mit Schüler*innen. Aber wie soll ich mich nun ver­hal­ten? Gefüh­le zei­gen? Über der Situa­ti­on ste­hen – obwohl ich mich doch in der Situa­ti­on befin­de? Auf kei­nen Fall wer­de ich von mei­nem Wunsch, in einer Gesell­schaft zu leben, in der die mit der Fah­ne ver­bun­de­nen Wer­te ver­wirk­licht wer­den, ablas­sen. Ich möch­te nicht müde wer­den, die­se Fah­ne zu his­sen. Ich lege sie auf das Pult, male mit einem schwar­zen Filz­stift Her­zen um die Brand­lö­cher und hän­ge sie an die Wand. Danach schrei­be ich die Wor­te Mar­tin Luther Kings auf ein Blatt Papier, das ich neben der Fah­ne befes­ti­ge: „Ich habe mich für die Lie­be ent­schie­den. Hass ist mir eine zu schwe­re Bür­de.“

Ich habe dem nichts ent­ge­gen­zu­set­zen als Lie­be. Die­se ist ein abso­lu­ter Wert, wie es auch die Wür­de des Men­schen ist. Mei­ne Lie­be ist kei­ne ande­re – kei­ne bes­se­re oder schlech­te­re – als die eines homo­se­xu­el­len Men­schen. Lie­be hat unter­schied­li­che Aus­drucks­for­men und eine part­ner­schaft­li­che Lie­be sehnt sich selbst­ver­ständ­lich auch nach Kör­per­lich­keit, eben nach Ganz­heit­lich­keit. Unbe­streit­bar stö­ren sich Per­so­nen, die geleb­te Homo­se­xua­li­tät ableh­nen, an die­ser kör­per­li­chen Dimen­si­on, die nicht zu ihrem Sche­ma von Hete­ro­se­xua­li­tät zu pas­sen scheint. Um Sexua­li­tät mora­lisch beur­tei­len zu kön­nen, ist jedoch die Fra­ge ent­schei­dend, ob Sexua­li­tät eine Aus­drucks­form lie­ben­der Zunei­gung und per­so­na­ler Begeg­nung ist oder ob die­se instru­men­ta­li­siert bzw. ob der Mensch instru­men­ta­li­siert wird.

Ist in einer geleb­ten Sexua­li­tät, die vor­wie­gend auf Selbst­be­stä­ti­gung oder Fort­pflan­zung aus­ge­rich­tet ist, der Mensch noch Zweck an sich selbst? Wenn ich die Wer­te von Wür­de und Lie­be ernst­neh­me und als abso­lu­te ver­ste­he, dann kann ich eine Auf­fas­sung von Sexua­li­tät, die homo­se­xu­el­len Men­schen die­se kör­per­li­che Dimen­si­on vor­ent­hält und sich vor­wie­gend über die Mög­lich­keit der Repro­duk­ti­on defi­niert, nicht gut­hei­ßen oder akzep­tie­ren.

In dem Moment, in dem ich die Regen­bo­gen­flag­ge wie­der an die Wand hän­ge, wird mir bewusst, dass nicht nur Men­schen mei­ne Soli­da­ri­tät brau­chen, son­dern dass ich sie eben­falls brau­che. Ich brau­che die Men­schen, die mit ihrem Leben bewei­sen, dass man Lie­be nicht modi­fi­zie­ren kann, dass man Wür­de nicht modi­fi­zie­ren kann, dass man Gerech­tig­keit nicht modi­fi­zie­ren kann. Ich his­se die Flag­ge – auch für den Men­schen, der sie nicht ertra­gen konn­te.

Foto: Tim Bie­ler/Uns­plash