Ich habe keine Worte dafür

Ich hatte mir für den Ferienbeginn vorgenommen, mal wieder für Raumrauschen zu schreiben – doch alles, was ich in den letzten Wochen an Gedanken gesammelt und an Texten angefangen hatte, schien mir plötzlich zu banal zu sein. Nachdem das Unwetter im Westen Deutschlands gewütet, Ortschaften sowie Existenzen zerstört und Menschenleben beendet hatte, stand ich sprachlos vor diesem Ausnahmezustand, dem Leid und vor mir selbst. Einen Text in der Woche nach dieser Katastrophe zu veröffentlichen, der eine derartige Notlage unbeachtet lässt, schien mir ignorant, jedoch einen Text darüber zu schreiben, völlig unmöglich. Entsprechend blieb der Blogbeitrag in dieser Woche aus.

Angesichts solcher Leiderfahrungen und humanitären Katastrophen habe ich keine Worte mehr. Alles, was im Alltag bedeutungsvoll erscheint, wird augenblicklich zunichte gemacht, Lebensweisheiten geraten an ihre Grenzen. Was soll man Menschen sagen, deren Existenzgrundlage weggeschwemmt wurde, die ihr Lebensprojekt oder sogar geliebte Menschen über Nacht, alles, was vertraut und bedeutend war, verloren haben, wie diese Menschen trösten? In extremen Notsituationen erlebe ich die Machtlosigkeit meiner Worte, es bleiben nur Gesten und Taten. Über diese möchte ich nun schreiben (auch wenn ich dafür auf Worte angewiesen bin), über die Hilfsbereitschaft und den Aktivismus, die ich in Ahrweiler gesehen bzw. erlebt habe, denn in dieser Menschlichkeit liegt etwas Tröstliches.

Nachdem ich ca. eine Woche nach der Flutkatastrophe im WhatsApp-Status eines Bekannten gesehen hatte, wie verwüstet das Haus und das Café seiner Eltern waren, schrieb ich ihn einfach an und fragte, ob noch Helfer*innen gebraucht werden. Er teilte mir mit, dass jede Hilfe willkommen sei, woraufhin eine Freundin und ich Freitagmorgen zu dem Parkplatz im Industriegebiet in Grafschaft fuhren, um von dort aus einen Shuttlebus für freiwillige Helfer*innen in das Krisengebiet zu nehmen. Die Schlange der Freiwilligen, in die wir uns einreihten, war überwältigend. Ortschaften, die mit Kleinbussen angefahren werden sollten, wurden über ein Megafon ausgerufen und die Fahrzeuge maximal ausgelastet, Ladeflächen und Kofferraumbereiche für Stehplätze genutzt; Anschnallgurten und Abstandsregeln schenkte man keine Beachtung. In dem Krisengebiet verlor vieles Gewohnte an Gültigkeit.

Es vergingen zwei Stunden bis wir das vom Parkplatz nur sieben Kilometer entfernte Ahrweiler erreichten, fast eine weitere Stunde, bis wir uns von der Stelle, die der Shuttlebus anfahren konnte, zu Fuß ins Zentrum gekämpft hatten, wo das Café war. Der Fußweg war notwendig, um auch mental anzukommen und zu begreifen, was man sah. Alle Bilder, die ich aus den Medien kannte, konnten die Dimension der Zerstörung und das Chaos, das vor Ort herrschte, nicht wiedergeben. Der Ort glich einer Trümmerlandschaft, erinnerte mich an Kriegsbilder, er bereinigte schlagartig von Machbarkeitswahn und Überheblichkeit. Das fortschrittliche Deutschland hatte es nicht geschafft, die Menschen zu beschützen und gegen das Chaos und den Schaden vorzugehen. Dass die Überschwemmung bereits eine Woche zurückliegen sollte, konnte man in Anblick der Verwüstung kaum glauben. Alles war verschlammt – Straßen und Menschen -, an den Häusern konnte man den Wasserstand erkennen, vor diesen türmten sich Gegenstände, die mit einer einzigen zähen, schlammigen Masse teils zu Nichtdefiniertem verschmolzen. Autos standen in Gärten und in Vorhöfen, auf dem jüdischen Friedhof neben umgefallenen Grabsteinen – durch die Flut teils auch aufeinandergeschoben.

Klein, machtlos, vergänglich kam ich mir vor, ganz bescheiden musste ich mir eingestehen, dass ich keine besonderen Fähigkeiten mitbrachte, die hilfreich sein würden. Ich hatte nur mich, meine Gummistiefel, meinen Eimer, einen Spaten, Muskelkraft und Willensstärke. Ich konnte nicht das leisten, was Menschen mit ihren Geräten aus dem Agrarbereich oder von Bauunternehmen, was Menschen bei der Feuerwehr, der Bundeswehr oder dem THW bewerkstelligen konnten. Trotz allem hatte ich das Gefühl, dass es gut war, dort zu sein und dass es wirklich auf jede*n Einzelne*n ankam.
Die meisten Türen und Fenster standen offen und nahmen unbekannte Helfer*innen auf, um gemeinsam das zu stämmen, was alleine nicht zu schaffen ist. Es gab kein ich, nur ein wir. Jede*r versuchte einen Teil beizutragen. Wenn der Keller eines Hauses ausgeräumt bzw. ausgehoben war, ging man zum nächsten.
Die Stimmung war weder trostlos noch hoffnungsvoll, es herrschte einfach eine unglaubliche Dynamik, ein großer Aktivismus. Menschen kamen mit ihren Möglichkeiten und Mitteln, es spielte keine Rolle, wer man war. Selbst die Bewohner*innen von den Häusern waren zum Teil in dieser regen und rastlosen Menge nicht als diese zu erkennen. Man fragte nicht viel, man begnete sich nur und versuchte sich in den Rhythmus der Arbeitsketten einzufügen, war einfach Mensch unter Menschen. In all der Dynamik lag eine große Achtsamkeit. Es wurde nicht viel gesprochen, sondern einfach gehandelt.
Die Gegenstände, die aus dem Schlamm gehoben wurden, erzählten allerdings Geschichten – von vergangenen Weihnachtsfesten, Reisen, Interessen, Fertigkeiten. Durch die Schlammmassen war alles unbrauchbar geworden. Die Illusion, sich mit einer Wohnung, dem Besitz, etwas Bleibendes oder zumindest etwas von Wert und Beständigkeit geschaffen zu haben, wurde von jetzt auf gleich zerstört.

Dieser Ort hat mich tief berührt, einerseits das unermessliche Leid, der Verlust, die Machtlosigkeit, andererseits die Erfahrung, dass so viele Menschen versuchen, dieses Leid auch nur ein wenig mitzutragen, wie wir in den Tiefen derartiger Tragödien auf uns selbst, unser nacktes Menschsein zurückgeworfen werden und alle Äußerlichkeiten sowie gesellschaftliche Unterschiede verschwinden. Radikal und ehrlich wird man mit dem Menschsein konfontiert,
wenn man sich in die Tiefe wagt.

Foto: Marian Kroell/Unsplash

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