Eine Welt ohne Bettler und ohne Sankt Martin
von Raphael Schlecht
Eine Welt ohne Bettler und ohne Sankt Martin
von Raphael Schlecht
Das Schauspiel war vorbei, wir Familien fingen an zu klatschen und da nahm auch er seine Krücke und schlug damit im Takt auf das Eisengeländer vor ihm. Und er hörte gar nicht mehr auf. Er schlug immer weiter, sodass die Kinder mit ihren Laternen erschreckt von ihm zurückwichen. Mit verstörten Blicken suchten sie ihre Eltern
In diesem Moment wurde mir klar, dass er es war, der da eigentlich in der Mitte des Platzes zu Füßen des großen Pferdes hätte kauern müssen. Und nicht diese Frau, die in ihrem Kartoffelsack nur die schlechte Karikatur eines Bettlers abgab. Es ging ganz konkret um ihn.
Ich hatte ihn schon vorher auf dem Weg zum Laternenzug gesehen. Mit dem Kinderwagen waren wir an ihm vorbeigegangen. Halb im Gehen und vor sich hin fluchend hatte er da gerade aus einem Pizzakarton gegessen. Einen großen Bogen haben wir um ihn gemacht.
Dabei ging es doch an diesem Abend um ihn. Ihm hätte dieser halbe Fetzen roter Stoff zugestanden, der auch in diesem Jahr durch das Schwert des Heiligen am Klettverschluss von der anderen Mantelhälfte getrennt wurde. Was auch immer er damit angefangen hätte, er hätte ihn bekommen müssen: dieser verwahrloste, übelriechende und in Lumpen gekleidete Mitmensch, der sich der Legende nach dem träumenden Soldaten noch in derselben Nacht als Christus offenbaren sollte.
Er war mir schon so oft begegnet: am Kaiserplatz, am Bushof, in der Innenstadt, am Bahnhof — oft zugedröhnt, mal weinend, mal aggressiv. Mal weiblich, meist männlich, teils erschreckend jung.
Um ihn ging es an diesem Abend der Legende nach eigentlich und zugleich auch nicht. Ich zumindest hatte nur Augen für den stolzen Reiter und das Pferd. Auch kamen viele wahrscheinlich vor allem wegen der Laternen und wegen des anschließenden Feuers.
Auf dem Rückweg kamen wir noch einmal an seinem Pizzakarton vorbei. „Vielleicht hatte ihm die Pizza ja jemand geschenkt“, dachte ich mir. „Ziemlich sicher“, dachte ich dann aber weiter, „ziemlich sicher reicht aber weder ein halber noch ein ganzer Mantel, weder eine halbe noch eine ganze Pizza, viel mehr bräuchte es eine Welt ohne Bettler, eine Welt ohne Bettler und ohne Sankt Martin.
Foto: Taufiq Klinkenborg/pexels