Eine Polin für die Oma & Willst Du das haben?

Im August erfuhr meine Oma, dass sie wieder an Krebs erkrankt war. Irgendwie dachten wir alle: „Oh nein, schon wieder.“ Sie wirkte noch sehr fit, reiste im Juli noch nach Aachen, um bei der Taufe ihres zweiten Urenkels dabei zu sein. Und irgendwie waren wir doch alle darauf eingestellt, dass sie auch dieses Mal wieder gesund werden würde. Hatten wir vergessen, dass sie über achtzig war, sich seit dem Tod ihres Mannes vor drei Jahren immer mehr zurück zog, die Kraft zum Leben und Kämpfen schwindet? Ja, wahrscheinlich hatten wir es vergessen. Die Ärzte streuten Optimismus: Chemotherapie, künstliche Ernährung. Aktionismus entstand. Zu Hause wurde alles für sie eingerichtet, weil plötzlich vieles nicht mehr ging. Viele Gäste wünschten „Gute Besserung“ und meine Oma verhielt sich so, als wenn nur das Leben der anderen endlich wäre. Die Pflege wurde umfangreicher. Eine Polin musste gefunden werden, die sich um Oma so umfassend kümmern konnte, wie es notwendig war. Frau M. kam und alle schlossen sie ins Herz. Meine Oma verstand sich gut mit ihr. Ich bewunderte Frau M. Sie reiste in ein anderes Land, um für drei Monate eine alte Dame zu pflegen – und Teil der Familie zu sein. Wahrscheinlich war meiner Oma in den letzten Wochen ihres Lebens keiner so nahe wie Frau M. Aber so sollte es wohl sein. Frau M. sollte es sein. Und das war gut so. Sie war es, die spürte, dass es für meine Oma Zeit war zu gehen, als andere sich noch der Hoffnung hingaben, es könne noch eine Weile so weiter gehen. Frau M. gebührt mein ganzer Respekt. Für alles. Und doch, die Frage bleibt: Warum musste eine fremde Frau kommen, um meine Oma in ihrem letzten Lebensabschnitt zu begleiten? Wäre es nicht die Aufgabe von Kindern und Enkeln gewesen? Ja, vielleicht ja. Aber wie hätte das z.B. logistisch bei Distanzen zwischen 300 und 500 km aussehen sollen? Ich weiß es nicht. Wir wussten es nicht. So war es gut, dass uns Frau M. geschickt worden war.

Ich sitze im ICE nach Köln. Gestern wurde meine Oma beerdigt. Alle sind gekommen. Für diesen letzten Weg wurden alle logistischen Kräfte mobilisiert. Und auch das, so denke ich – ohne Sarkasmus oder Provokation walten zu lassen – war gut so.

Und das? Willst Du das haben? Meine Cousins, mein Bruder und ich durften zuerst wählen: Kochbücher, Geschirr mit Goldrand, Schmuck, ein Klavier … Ja, dachte ich, eigentlich schon, aber ist das ok? Ist es ok, wenn sich die Enkel direkt nach der Beerdigung etwas aussuchen? Wir waren verunsichert, trauten uns nicht so recht. Fanden es irgendwie komisch. Mein Cousin blätterte im großen Backbuch. Da waren sie, all die Plätzchen, die unsere Oma immer so gerne gebacken hatte. Ich erinnerte mich daran, wie sie in den letzten Jahren immer sagte: „Dieses Jahr habe ich nicht mehr so viele Sorten gebacken. Nur noch 12(!).“ Wir mussten alle lachen und plötzlich war es ok, sich etwas auszusuchen. Plötzlich war es ein Stück Erinnerung an unsere Oma bzw. an unsere Großeltern, das wir in Händen hielten und nicht mehr nur etwas, das wir uns „genommen“ hatten. Ich glaube, wenn meine Oma sich früher getraut hätte das Ende ihres Lebens wahrzunehmen, hätte es ihr noch sehr gefallen uns Enkeln eine Freude zu bereiten.

Ein bisschen Oma und Opa als Erinnerung und immer öfter fiel der Satz: „Ja, das hätte ich gerne.“

Jasmin Bartel

Foto: Bonk!Bild / photocase.de

«

»