Drachen und Einhörner

Eine Schneeflocke lässt sich bis ins kleinste Molekül analysieren und aufschlüsseln. Unsere Welt besteht aus Formeln. Aber wie fühlt es sich an, inmitten eines Schneeflocken-Getümmels zu stehen und zu sehen, wie die Welt sich verzaubert?

Menschen sind berechenbar. Jedes Computersystem kann mich analysieren. Möglicherweise weiß es mehr über mich als enge Freunde. Der Algorithmus lügt nicht. Mit einer Trefferquote von über 90% lässt sich möglicherweise bei einem Einzelnen ein bestimmtes Verhalten vorhersagen. Und doch passiert es, dass wir uns unberechenbar verhalten. Der Faktor Mensch.

Wir wissen, dass es weder Einhörner noch Drachen gibt auf unserer Erde. Und behaupten das mit der Dekadenz des aufgeklärten Menschen. Und fliegen mit Flugobjekten durch die Weiten des Universums, obwohl man uns gesagt hat, wir würden nie fliegen können.
Verliebt sein ist ein biochemischer Vorgang. Wir können Schmetterlinge im Bauch, sensorische Wahrnehmungen, körperliche Anziehung ganz einfach mit Hormonen erklären. Aber es gibt keinen Quellcode für Geborgenheit.

Wir wissen um jede winzige Kleinigkeit, wie ein Kind entsteht und im Mutterleib wächst. Aber wie aus einem Gedanken, ein Wunsch, ein Sehnen, ein Mensch wird, lässt sich nur Wunder nennen.

Wir wissen was mit unserem Körper passiert, wenn wir sterben. Wir können sehen, wie ihn alles Beseelte verlässt. Und spüren doch, dass da etwas bleibt.

Man kann uns bis ins kleinste Detail darlegen, dass es keinen Gott geben kann, und uns doch nicht den Glauben nehmen.

Man kann dir erzählen, dass deine Sehnsucht, dein Drang nach dem Mehr, dein Wünschen, dein Warten, deine Suche aussichtslos ist. Man kann dir sagen, dass man sich nicht sehnt heutzutage, dass man sich zufrieden geben muss mit dem, was ist und was man hat. Dass es weder Einhörner noch Drachen gibt am anderen Ende der Welt, dass du niemals fliegen wirst, weil Menschen dazu nicht gemacht sind und es unmöglich ist. Dass mit dir etwas nicht stimmt. Man kann dich klein halten, dir alles aufschlüsseln, man kann dich auslachen und dir die Hoffnung nehmen. Aber niemals die Sehnsucht.

Mach dich auf den Weg. Nimm deine Sehnsucht und wag es, ihr zu trauen. An nichts wird es dir mangeln. Grüne Auen, erquickende Wasser, fürchte kein Unheil [Vgl.Psalm 23]. Das was du sehnst, du kennst es schon. Es ist längst da. Du musst dich nur trauen.

Nachtrag:
Ich beendete den Text, schenkte mir ein Glas Wein ein und sah aus dem Fenster in die Dunkelheit. Es hatte begonnen zu schneien. Das erste Mal in diesem Winter, tagelang angekündigt und doch nie geschehen. Nur wenige Minuten später waren wir draußen, mitten in der Magie der Schneeflocken, die die Nacht verzauberten.

Wir sahen uns an. Und nahmen unsere Sehnsucht und wussten: Alles ist wahr.

Foto:  Massimo Negrello/Unsplash

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