Die Kraft der Kerzen
von Raphael Schlecht
Die Kraft der Kerzen
von Raphael Schlecht
Der letzte Advent war spannend: meine Frau war hochschwanger und kurz vor der Geburt unseres Sohnes, der Mitte Januar das Licht der Welt erblicken sollte. Zugleich wurde bei ihr einige Monate zuvor Schwangerschaftsdiabetes diagnostiziert. Von da an konnte sie so gut wie keine Kohlenhydrate, geschweige denn Zucker mehr zu sich nehmen, ohne dass ihr Blutzuckerspiegel durch die Decke ging. Kurz vor Weihnachten war das einmal mehr herausfordernd. Zugleich mehrten sich mit dem Herannahen des Entbindungstermins die Sorgen darüber, dass das Kind wegen des Diabetes zu groß wird. Sollte die Geburt eingeleitet werden oder nicht? Würde alles gut gehen? Die Fragen blieben und die Ungewissheit konnte uns von niemandem genommen werden. So warteten wir im letzten Advent nicht nur auf die alljährliche Ankunft des Herrn, sondern ersehnten auch die Geburt unseres Sohnes — bestenfalls nicht im Stall zwischen Ochs und Esel, sondern im Kreißsaal und ohne Komplikationen.
Für mich war das neu. Bis dahin verband ich mit dem adventlichen Warten vor allem Vorfreude. Diese steigerte sich mit jedem geöffneten Türchen des Adventskalenders bis zum Heiligabend hin. Vorfreude zelebriert man, Sehnsucht will man überwinden und so sehnte ich mich letztes Jahr nach Entlastung von Sorgen, die existenzieller waren als der ganze Vorweihnachtsstress, mit dem ich mich bis dahin im Advent immer herumgeschlagen hatte. Dieser trübe Hintergrund war auch weder durch die Türchen des Adventskalenders noch durch einen Besuch auf dem Weihnachtsmarkt richtig aufzuhellen. Zumal es für mich auch nicht damit getan war, diese Sorgen im Glanz der Lichterketten zu überstrahlen, gar auszublenden: Die Situation war nun einmal, wie sie war und es galt sie anzunehmen.
In dieser Zeit tat es mir gut, abends den Adventskranz anzuzünden. Ich schaltete dafür alle Lichter aus, hockte mich auf den Boden und schaute auf die flackernde Kerzen: erst eins, dann zwei, dann drei, dann vier…Da saß ich, wie das Volk, das im Dunkeln ein Licht aufgehen sieht und war beruhigt. Einfach, weil das Dunkel, die Sorgen und die Ungerechtigkeit in dieser Szene vorkamen und ich mich darin wiederfand. Das war eben noch nicht Weihnachten, es war noch nicht die Geburt des Erlösers, es war noch nicht alles hell und unser Kind noch nicht heil geboren. Es war noch Advent, es war noch das Jammertal mit der leise wachsenden Hoffnung, dass man aus diesem auch mal wieder herausfindet. Mehr Licht wollte ich auch erst einmal gar nicht. Weil es nicht realistisch gewesen wäre und nur geblendet hätte. Die ganze Kraft und Tiefe, die von den flackernden Kerzen im Dunkeln ausging, sie wäre dahin gewesen.
Dieser Advent ist zum Glück nicht mehr ganz so spannend: Unser Sohn wird bald ein Jahr und meine Frau muss dieses Jahr nicht wieder auf Plätzchen verzichten. Die Tiefe und Kraft der Adventskerzen will ich mir trotzdem erhalten. Ich muss mir dafür nicht das Dunkel herbeisehnen, um dieses helle Licht aufgehen zu sehen. Volk, das im Dunkeln leben muss, gibt es zuhauf: sei es im eigenen Viertel oder in den Krisengebieten dieser Welt. An diesen Menschen Anteil zu nehmen und sich auf ihre Schicksale aktiv einzulassen, strengt an. Man wird dabei mit Dingen konfrontiert, die im eigenen Leben Schatten werfen. Um die Kraft der flackernden Adventskerzen zu erfahren, reicht mir in diesem Jahr ein realistischer Blick auf die Welt, bei dem ich jene nicht ausblende, die nicht funkeln und glänzen – gerade im Advent.
Foto: Anugrah Lohiya/pexels