Das A und O

Einfahrt in den Kölner Hauptbahnhof. Das Nachbargleis gleitet immer langsamer an meinem Fenster vorbei – die bekannte Mischung aus Schildern, Fahrplänen, Reklametafeln und Menschen. Aber halt, was war das: eine Gleisabschnittsanzeige mit dem Buchstaben O? Der Kölner Hauptbahnhof ist zwar groß, aber Abschnitte von A bis O? Das wäre von der Länge vermutlich über die Deutzer Brücke bis kurz vorm nächsten Bahnhof. Ich kann gerade noch rechtzeitig den Kopf drehen, um zu sehen, dass am anderen Ende des Mastes für das gegenüberliegende Gleis ein A steht. Und jetzt fällt mir auf, dass es kein O sondern die kreisrunde Neonröhre hinter der fehlenden Abdeckung ist. Hinter jedem A ein O, denke ich.

Mir fallen Beschilderungen in anderen Ländern ein, die mich, statt mir den Weg zu weisen oder anders weiterzuhelfen, eher verwirrt und in die Irre geleitet haben. Auch das Gleis 9 3/4 aus Harry Potter mit dem dazugehörigen Bahnhof, den ich vor Brexit und Corona nicht in Richtung Hogwarts sondern Cambridge verließ.

Orientierung ist das A und O beim Reisen. Nur in wenigen Situationen ist es mir egal, wohin es geht, oder lege ich es sogar darauf an, irgendwohin zu kommen, wo ich gar nicht hin wollte. So wie mir jetzt meine Schwester vom Tag ihrer Abschlussprüfung erzählte, als sie, nachdem alles vorbei war, völlig losgelöst entschloss, in der Straßenbahn ihrer Stadt bis zur Endstation sitzen zu bleiben, wo sie noch nie war. Oder wie in der Geschichte „Der Abstecher“ von Franz Hohler, in der jemand aus einer Laune heraus in Bern nicht in den Zug nach Zürich, sondern in den nach Singapur steigt – um nach der Abfahrt vom Kondukteur zu erfahren, dass es ein Zug ohne Zwischenhalt ist…

Irgendwie hängen Anfang und Ende, Information und Desinformation, Verwirrung und Orientierung zusammen.
Im Unterwegssein sein jedenfalls steckt das alles, und noch viel mehr: die Fragen nach dem Woher und nach dem Wohin, nach dem A und O in meinem Leben – und darüber hinaus. Sie lassen sich selten mit einzelnen, eindeutigen Wegmarken und Infos beantworten, diese Fragen. Und vom Ende her Denken, wie die ans Ende ihrer Amtszeit kommende Kanzlerin rät, klappt auch nicht immer. Was und wer das A und O für mich ist, muss ich mich unterwegs also immer wieder neu fragen. Ohne Garantie auf Antwort: manchmal gibt es außer dem Weg kein Ziel, auch wenn ich es mir anders wünsche.
Ohne für mich selbst zu klären, wohin ich will, komme ich ebenso wenig dorthin wie ohne auf andere/s zu hören und mich daran neu zu orientieren.
In diesem Urlaub stellen mir auch Pandemie und durch die Flut zerstörte Infrastruktur und Lebenspläne Fragen nach dem Woher und Wohin.

Wo kämen wir hin,
wenn jeder sagte,
wo kämen wir hin,
und keiner ginge mal nachsehen,
wo man hinkäme,
wenn man hinginge.

(Kurt Marti)

Foto: Jametlene Reskp/Unsplash

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