Dafür stehen wir eigentlich!

Achtung! Dieser Beitrag möchte politisch sein – eine persönliche politische Meinung, weil mein Glaube persönlich ist, aber nicht einfach Privatsache.

Von der durch Jonas aufgeworfenen Frage: „Wofür stehen wir eigentlich?“ (in dem Beitrag vom 17.09.), habe ich mich angesprochen gefühlt, aber auch herausgefordert. Häufiger erlebe ich, dass Menschen – ich möchte mich nicht ausnehmen – wissen, gegen was sie sind, was sie nicht wollen, aber sehr vorsichtig geworden sind, eine positive Haltung und Zugehörigkeit zum Ausdruck zu bringen. Doch meine Identität ergibt sich nicht einfach aus einer vielfachen Abgrenzung, sondern wichtiger noch ist meine Zugehörigkeit – um zu wissen, wer ich bin, muss ich doch wissen, zu wem, wohin ich gehöre, was ich bejahe. Vielen fällt es leicht, eine klare Zugehörigkeit zu einem Sport- oder Fußballverein zu formulieren, bei politischen und religiösen Aussagen erfahre ich viel Zurückhaltung – ganz nach der Alltagsregel: Politik, Religion und Sexualität sind keine Smalltalk-Themen, die sollte man (beispielsweise bei einem Geschäftsessen) besser aussparen. Ich verspüre allerdings ein pubertäres Trotzverhalten in mir, gerade diese tabuisierten Bereiche anzusprechen und zu diskutieren, weil diese wichtig sind und ich Menschen – vielleicht auch mich selbst – aus der Komfortzone locken möchte.

In gewisser Weise ist das als Lehrerin ja auch mein Job. Die in unserer Gesellschaft vorhandene Angst, dass die eigenen Ansichten die Haltung und Lebensweise eines anderen infrage stellen und Positionierungen als Bevormundung erfahren werden könnten, führt in der Schule dazu, dass Schüler*innen dankbar sind, wenn sie direkte Fragen stellen, Antworten erhalten und darüber diskutieren dürfen. Als ich mit Jugendlichen zu Beginn des Schuljahres über die Bedeutung der Kirche für das persönliche Leben gesprochen habe, kritisierten viele, dass Kirche kaum noch lebensnahe, lebensrelevante Antworten liefert, in Krisen zu wenig Präsenz zeigt und profillos geworden ist. Ein Großteil hatte weder eine zustimmende noch eine ablehnende Haltung, sondern begegnet der Kirche und dem christlichen Glauben mit Gleichgültigkeit, weil Inhalte und Selbstaussagen nicht mehr greifbar erscheinen, dem kaum noch Bedeutung für das persönliche Leben beigemessen wird. Daher halte ich es für unverzichtbar, die von Jonas formulierte Frage in diesem Zusammenhang zu stellen – weil die Antwort darauf in unserem gesellschaftlichen Bewusstsein nicht mehr unbedingt gegeben ist.

Wir müssen uns wieder stärker auf den Wesenskern der christlichen Botschaft besinnen, Antworten wagen und versuchen die lebenspraktische Relevanz zum Vorschein zu bringen. In diesem Sinne habe ich die Frage auch als Appell an mich ganz persönlich verstanden, mein Christsein aufrichtig sowie konsequent zu denken und dies zu leben. Der Beitrag von Jonas konfrontiert uns Leser*innen unmissverständlich mit dem Herz der christlichen Botschaft und ich möchte herausstellen, dass ich bisher selten einen Satz gelesen habe, indem das Gendersternchen dermaßen notwendig sowie bedeutend anmutete und es mich aufrichtig berührt hat: „Liebe deine*n Nächste*n wie dich selbst.“ Meiner Meinung nach erhält diese Aufforderung, an die wir uns durch das häufige Zitieren leider gewöhnt zu haben scheinen, sodass wir uns des Inhalts in seinem vollen Umfang des Öfteren nicht mehr bewusst sind, seine universale Gültigkeit und somit seine Aussagekraft wieder. Wie Jonas in seinem Text bedeutungsvoll schlussfolgert, sollte diese unbedingte Liebe dem Menschen nicht nur unabhängig von Geschlecht, sondern auch von Abstammung, ethnischer Zugehörigkeit, Herkunft, Religion (u.a.) gelten und entgegengebracht werden. Mit der Erläuterung: „Das hat nichts mit Politik zu tun. Das ist christlich. Das ist menschlich“, endet der Beitrag, der zugleich eine politische Positionierung des diözesanen Verbänderates im Bistums Aachen rechtfertigen möchte.

Ich kann der abschließenden Erläuterung jedoch nur teilweise zustimmen. Das Gebot der Nächstenliebe ist ohne Frage christlich – es ist Ausgangspunkt christlicher Ethik. Es ist ebenso grundlegend menschlich – da die Fähigkeit, zu lieben, moralische Entscheidungen zu treffen und das Handeln danach auszurichten, wesensbestimmend für uns Menschen ist. Der Mensch begegnet so sich selbst in seinem Menschsein, würdigt gleichermaßen sein Gegenüber als Menschen. Wie grundlegend dieses Gebot für uns, wie universal und unbestreitbar gesetzgebend es ist, bezeugen das Grundgesetz und die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte. Ich – als Mensch und als Christ und als Teil dieser Gesellschaft – möchte und trete dafür ein, dass dieses Gebot, dieser ethische Grundsatz unsere Gesellschaft sowie unser zwischenmenschliches Miteinander gestaltet. Eine derartige Positionierung und die Einflussnahme eines Christen, eines Bistums, einer Kirche auf den öffentlichen Bereich, aber auch auf private Meinungen und die Forderung, das eigene Wahlverhalten in Hinblick auf eine christliche Ethik zu reflektieren, ist politisch – und das ist gut so.

Als Christ habe ich nicht nur eine bestimmte Haltung zu Gott, sondern ich nehme (aus der Gottesbeziehung heraus) auch eine bestimmte Haltung zu der Welt und den Mitmenschen und nicht zu Letzt zu mir selbst ein. Wenn ich das ernst nehme und konsequent lebe, verändert das Gesellschaft und fordert mich zu einer politischen Haltung heraus. Vor einigen Wochen habe ich von meinem Privileg, in einer Demokratie zu leben und ein Recht auf freie Meinungsäußerung zu haben, Gebrauch gemacht und mit einem Schild: „Menschenrechte kennen keine Grenzen“, für die Evakuierung von Moria demonstriert. Dies war mir als Mensch und Christ ein tiefes Bedürfnis. Meine politische Haltung lässt sich nicht von meiner christlichen isolieren. Würde ich es versuchen, hätte ich den Eindruck, meinem Glauben nicht gerecht zu werden, der gelebt werden will.

Jesus ist für mich nicht nur ein Mensch der Worte, sondern gleichermaßen der Taten. Seine Botschaft ist eine Einheit von Wort und Tat. Das Neue Testament möchte keine netten Sprüche für verstaubte Poesiealben liefern, sondern zum Handeln auffordern und die Welt zu einem besseren, liebevolleren Ort machen. Ich finde es daher völlig richtig, das eigene Wahlverhalten vor dem Hintergrund einer christlichen Ethik zu reflektieren und halte es für legitim, einfach mal zu fragen: „Was würde Jesus tun?“ Er würde mit Sicherheit nicht Menschen zur Macht verhelfen, die menschenverachtende Inhalte und Ziele verfolgen, keine Partei wählen, in der Personen das Leben anderer herabwürdigen und geringschätzen. Aber vermutlich würde er sie auch nicht ausgrenzen, sondern unter Umständen das Gespräch bzw. die Auseinandersetzung suchen. Möglicherweise würde er zu Wahlveranstaltungen gehen und Menschen fragen: „Vor was hast du Angst? Was fehlt dir zum Leben?“ Eventuell wäre er auch enttäuscht und wütend, dass Menschen, die so viel Gutes haben, trotz dessen so beschränkt liebesfähig sind. Vielleicht würde er Menschen, die anderen den Wert und das Lebensrecht absprechen, um das eigene Selbstwertgefühl und gefühlte Lebensrecht aufzuwerten, auch sagen, dass sie wertvoll sind.

Ich denke, eine Demokratie wie auch das Christentum müssen eine Parteienvielfalt (somit auch radikale Ausrichtungen) aushalten, aber der Staat und die Kirche sollten eine klare Haltung zu diesen einnehmen. Ich kann mit meinen christlichen Werten, meinem Menschenbild, meiner Weltanschauung nicht vereinbaren, eine Partei zu wählen, in der sich Mitglieder*innen rassistisch und menschenverachtend äußern. Natürlich erwarte ich von der Kirche, dass sie gemäß der christlichen Werte sich pro Menschenrechte, Menschenliebe und Gerechtigkeit ausspricht. Dafür stehen wir – für radikale Menschenliebe. Je geringer die Akzeptanz hinsichtlich dieser Forderungen ist, umso notwendiger erscheint mir eine klare und starke Positionierung seitens der Kirche. Jesus war kein Eremit, der zurückgezogen gelebt und sich ausschließlich „auf’s Beten konzentrier[t]“ hat. Seine Bergpredigt hat durchaus politisches Format und sein Kreuzestod ist eine Folge von (die Gesellschaft verändernden) Worten und Taten – dieser folgt draus, dass er etwas gesagt hat, was er nicht hätte sagen dürfen, dieser ist die Konsequenz einer radikal gelebten Menschenliebe.  So kann ich am Ende die Frage, woher dieser Hass komme, nicht beantworten, doch ich weiß, zu was wir herausgefordert sind: menschlich zu sein, christlich zu sein – dem Liebe entgegenzusetzen. Das ist keine naive, wirklichkeitsverweigernde oder verharmlosende Reaktion, sondern eine beachtliche Herausforderung, eine Menschheitsaufgabe.

Foto: Meilisa Dwi Nurdiyanti/Unsplash

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