Auf der Straße beten

Einmal im Jahr nehme ich mir 4-7 Tage Zeit und widme mich Fragen, die im Alltag schon mal untergehen. Ist meine Liebe, die die Grundlage meiner Arbeit als Theologin in dieser Kirche ist, noch lebendig? Lebe ich noch aus der Liebe Gottes zu mir? Oder bin ich kleingeistig geworden, abgelenkt von dem, was ihm und mir wichtig ist? Gibt es was Neues zu entdecken, was für Leben und Arbeit wesentlich wäre? Ich liebe diese alte Tradition, die meine Kirche Exerzitien nennt und mir als ihrer Mitarbeiterin eine Woche im Jahr zur Verfügung stellt, sehr. Und ich möchte sie in meinem Jahreslauf nicht mehr missen. Ich würde dafür auch Urlaub nehmen.

Jahrelang bin ich für diese Zeit immer an einen entlegenen Ort gefahren, ein Kloster, ein Tagungshaus, wo wenig ablenkt, wenn man sich in Bibel und Stille und Gebet versenkt. Zwei Jahre lang hab ich schätzen gelernt, dass das auch am Meer sehr gut geht.

Dieses Jahr hab ich mal noch etwas anderes ausprobiert. Ich habe an Straßenexerzitien (strassenexerzitien.de) teilgenommen. Christian Herwartz, ein Jesuit, hat damit vor Jahren begonnen und mittlerweile kann man an vielen Orten in Deutschland diese Exerzitien machen.

Die Idee dabei ist, sich nicht in die Stille zurückzuziehen, sondern in der Stadt Gott zu suchen all das oben Beschriebene zu finden: Gottes Liebe, Rückbindung an ihn und Neuausrichtung. Und das funktioniert, wenn man das Leben der normalen Stadtmenschen nicht ausblendet dabei, vor allem das Leben der armen und kleinen Leute nicht, die halt, die Jesus besonders am Herzen lagen. So habe ich in den vier Tagen Exerzitien letzte Woche tagsüber keine persönliche Rückzugsmöglichkeit gehabt, keinen Meditationsraum, keine organisierten Mahlzeiten zwischen Frühstück und Abendessen. Morgens und abends haben wir in unserer kleinen Gruppe Essen und Erfahrungen geteilt. Dazwischen war jede/r alleine unterwegs.

Und was soll ich sagen? Auf den Straßen und in den Gassen der Millionenstadt bin ich an vielen Stellen Gott begegnet, einfach weil ich mich davon berühren ließ, was ich an Menschen und Situationen sah. Wie z.B. vom vielleicht 10-jährigen Jungen, der am Fenster im 1. Stock eines recht heruntergekommenen Hauses saß, ein Spielzeuggewehr in Händen hatte und vorbeigehende Passanten “abknallte.” Den sah ich am ersten Morgen und er ging mir seitdem nicht mehr ganz aus dem Kopf. Täglich ging ich an dem Haus vorbei und fing an, ihm einen Schutzengel herbeizubeten. Klingt hilflos? Ist es auch irgendwie. Aber gute Wünsche haben noch keinem geschadet. Ziemlich berührt war ich dann nochmal am nächsten Tag, als ich sah, dass unter seinem Fenster zwischen diversen Grafittis groß AMOR, also “Liebe” geschrieben stand. Möge das Wort wie ein Segen für den Jungen und die andern Menschen in diesem Haus sein.

Oft hab ich auch still auf einer Bank am Rhein gesessen. Da hab ich auch mal meditiert, während eine Frau an der nächsten Bank Verrenkungen machte, die ich für Yoga hielt. Wir haben uns anschließend freundlich zugelächelt, zusammen mit den offensichtlich muslimischen Großeltern, die mit einem Kinderwagen unterwegs waren.

Es war gut, mich in so bunter Gesellschaft zu befinden, mich dort wohl zu fühlen und genau dort mit meinem Gott zu sprechen. Ich bin nachdenklich aber auch frohgemut aus meinen Straßenexerzitien nach Hause gekommen. Ich werd jetzt auch in meinem Alltag öfters auf der Straße beten gehen und mit Gottes liebevoller Brille Menschen ansehen. Mal gucken, was das noch mit mir macht.

Foto: Susanne Moll

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