Vorfreude
von Lucia Traut
Vorfreude
von Lucia Traut
Neulich stand die Vorfreude bei mir vor der Tür. Lange hatte ich sie nicht gesehen. „Hallo du“, grüßte sie mit leiser Stimme.
„Hey“, sagte ich, um Lockerheit bemüht, „lang ist’s her.“
„Ja, stimmt“, antwortete sie. Verlegen schwiegen wir eine Weile. „Darf ich reinkommen?“, fragte sie vorsichtig.
„Ich weiß nicht“, erwiderte ich zögernd. „Irgendwie kommst du gerade etwas überraschend. Nach all der Zeit.“
„Verstehe“, sagte sie nur. „Wir können uns auch hier an der Tür unterhalten, wenn du magst.“
„Okay“, willigte ich ein. Ich wollte sie jetzt auch nicht ganz abweisen. Schließlich waren wir mal gute Bekannte gewesen.
„Ich hab deine Kinder besucht“, fing sie an.
„Ja, ich weiß“, sagte ich. „Das ist total schön, wie oft du bei ihnen vorbeischaust. Vor Weihnachten und vor den Geburtstagen. Vor Übernachtungspartys und vor dem großen Konzert letztens. Und vor den Urlauben. Die freuen sich so sehr.“
Die Vorfreude lächelte. „Wunderbar, oder?“, stimmte sie zu. „Kinder können das richtig gut – das Vorfreuen. Die sind dann mit dem ganzen Körper so hopseleicht, haben Schmetterlingsflattern im Bauch, können vor lauter Wunsch-Konfetti im Kopf nicht einschlafen und sind trotzdem am nächsten Tag nicht müde. Total schön.“
Einvernehmlich lächelten wir vor uns hin, die Vorfreude und ich, beim Gedanken an die vorfreudigen Kinder.
„Das habt ihr gut hingekriegt“, sagte die Vorfreude mit warmer Stimme.
„Was meinst du?“, fragte ich überrascht.
„Na, dass sie sich so wunderschön vorfreuen können. Man sagt zwar, ich sei die schönste Freude. Aber wenn danach nichts mehr kommt, dann wird’s für mich auf Dauer auch schwierig. Und für das ‚danach‘ habt ihr ja immer gesorgt“, erklärte sie. „Aber ich weiß, dass das nicht immer leicht war“, setzte sie hinzu.
Ich merkte, wie mein Hals enger wurde, es in den Augen anfing zu brennen. „Du meinst die Corona-Zeit“, sagte ich bitter. „Ja, das war nicht schön.“
‚Nicht schön‘ traf es wohl nicht ganz. ‚Total beschissen‘ wäre eine passendere Beschreibung gewesen. Vieles war zwar inzwischen in meiner Erinnerung zu einem Einheitsbrei verschwommen: Die Zeit mit Lockdowns, Kitaschließung, Homeschooling, Verbot von Familientreffen und Kindergeburtstagen, der verzweifelte Versuch, mit Videokonferenzen irgendeinen Ersatz für Ballettstunden und Großelternbesuche zu schaffen, die ständige Konfrontation mit virtuellen und realen Coronaleugnern und Impfgegnern und all das. Was aber immer noch sehr lebendig war in der Erinnerung, war das Gefühl von ständiger Überforderung mit der Gesamtsituation. Daran, wie wir versucht hatten, für unsere Kinder trotz allem irgendeine Form von verlässlicher Normalität zu wahren. Denn natürlich kamen trotz Corona Geburtstage, Ostern und Weihnachten. Und natürlich wurde das gefeiert, führten wir alle Familientraditionen zu diesen Anlässen weiter fort. Teilweise dann in anderer Form, mit Ersatzlösungen für all das, was nicht ging. Ich erinnerte mich genau, wieviel Kraft diese Ersatzlösungen manchmal gekostet hatten, wieviel Energie es gebraucht hatte, eine schöne Atmosphäre zu schaffen, den Schein zu wahren, dass wir mit DIESER Form des Osterfestes oder des Geburtstagfeierns doch eigentlich sehr zufrieden sein können – auch wenn es sich für uns Erwachsene insgeheim irgendwie alles nur unwirklich anfühlte. Und ja, wir hatten das gut hingekriegt. Unsere Kinder hatten sich weiterhin vorgefreut auf all diese Anlässe – ihre Vorfreude war so ‚normal‘ und gar nicht – wie alles andere in ihrem Leben — von der Pandemie eingefärbt. Jedes Mal, wenn sie vor Aufregung hüpften, mit heißen Wangen Wunschzettel schrieben und eifrig bei den Festvorbereitungen halfen, hatte ich Tränen in den Augen. Und mir gewünscht, ich könnte mich auch einfach so mitfreuen. „Gut, dass du damals da warst für sie“, sagte ich mit einem Kloß im Hals.
„Ja“, antwortete sie nur. „Wäre ich für dich auch gerne gewesen“, ergänzte sie dann. „Hab auch ab und zu angeklopft. Aber du hast nicht aufgemacht.“
„Kontaktsperre“, sagte ich im schlechten Versuch einen Witz zu machen. „Entschuldige“, fuhr ich dann ernster fort, „ich hätte dich so gerne reingelassen. Aber irgendwie hab ich mich nicht getraut.“
„Wie meinst du das?“, fragte die Vorfreude verwundert.
„Na, ich hatte mich ja auf so viele Dinge gefreut. Auf die Zeit des Mutterschutzes mit dem dritten Kind – meinem letzten Baby. Auf die allererste Kindergeburtstagsparty von der mittleren. Auf die Familienfeste mit drei Kindern, auf die Urlaube, auf Konzerte, auf Treffen mit Freunden… Auf so viel. Und dann war alles einfach weg. Oder anders. Oder eben nur eine mehr schlechte als rechte Ersatzlösung. Und es gab ständig neue Regelungen und Absagen und Verbote, nichts war mehr verlässlich…“ Mein Kloß im Hals war nun so dick, dass ich nicht mehr weitersprechen konnte.
„Und dann hast du dir irgendwann abgewöhnt, dich vorzufreuen“, sagt die Vorfreude mit sanfter Stimme. „Denn das ständige Enttäuscht-Werden tat zu weh.“ Ich nickte nur mit Tränen in den Augen. „Kann ich verstehen“, sagte sie traurig.
„Ich hab ja gar nichts gegen dich“, versuchte ich zu erklären. „Es ist nur so, ich glaub, das war so eine Schutzreaktion meiner Seele. Damit ich stark bleiben konnte. Für die Kinder und so…“
Die Vorfreude zog ein Papiertaschentuch aus der Tasche und reichte es mir. Ich nahm es dankbar entgegen und wischte mir die Tränen vom Gesicht.
„Ist es jetzt besser?“, fragte sie nach einer Weile.
„Sollte es sein, oder?“, gab ich zurück. „Die Pandemie ist vorbei, alles läuft wieder normal und wir haben es im Vergleich zu anderen ja gottseidank gut überstanden. Aber irgendwie…“
Fragend schaute die Vorfreude mich an.
„Irgendwie ist es gar nicht so leicht, wieder mit dem Vorfreuen anzufangen“, gab ich zu. „Denn wenn wir ehrlich sind, wird ja eh immer alles anders als man es sich ausgemalt hat.“
„Mmmh, verstehe“, sagt die Vorfreude nachdenklich. „Ein Gedanke: Lass beim Ausmalen der Zukunft doch etwas Platz frei für das Leben. Das wird ohnehin mitmalen, ob du willst oder nicht. Und dann hast du Spaß beim vorfreudigen Ausmalen und trotzdem noch Raum für all das Überraschende und Gute, was das Leben dir noch dazu schenken will.“ In verschwörerischem Ton fügt sie hinzu: „Da oben meint es nämlich jemand wirklich gut mit dir, weißt du? Mit euch allen.“
„Jetzt klingst du wie die Leute, die einem an der Haustür was vom Himmelreich erzählen wollen“, versuchte ich zu scherzen.
„Mag sein“, erwiderte die Vorfreude grinsend mit einem Schulterzucken. „Aber stimmen tut’s trotzdem.“ Wir lachten beide und es fühlte sich ein bisschen wie Erlösung an.
„Wie wär’s“, schlug die Vorfreude schließlich vor, „du bittest mich rein, ich koch dir deinen Lieblingstee und du erzählst mir über eure nächsten Urlaubspläne. Hab gehört, es geht nach Frankreich?“
Ich lächelte und hielt der Vorfreude die Tür auf.
Foto: R.Londo